The Forest - Wald der tausend Augen
weggegangen sein.«
Travis schüttelt den Kopf. »Mary.« Wieder hält er meinen Arm fest, um mich am Auf- und Abgehen zu hindern. »Erzähl mir, warum das so wichtig für dich ist. Sag mir, warum das jetzt plötzlich so wichtig ist.«
Meine Füße werden ruhig, ich schaue ihm in die Augen. Seine unwahrscheinlich schönen, ruhigen Augen. »Weil nie jemand etwas von ihr wissen wird. Und das bedeutet, dass nie jemand von mir wissen wird.« Meine Stimme ist ein Flüstern. »Wenn sie in unser Dorf kommen, wer wird dann etwas über mich wissen?«
»Ich weiß von dir, Mary.« Er legt mir seine Hand auf die Wange, und ich muss die Augen schließen, damit er nicht liest, was mir durch den Kopf geht, ich aber nicht laut sagen kann. Dass es nicht genug ist.
Dass ich furchtbare Angst habe, dass er nicht genug ist.
Tränen brennen in mir, als er mich an seine Brust zieht. »Ich weiß von dir, Mary«, wiederholt er. Ich spüre die Vibrationen seiner Stimme im ganzen Körper. Seine Lippen sind an meinem Ohr, und als könnte er meine Gedanken lesen, sagt er: »Ist das Leben mit mir nicht genug, Mary?«
Eine Leere erfüllt mich, als ich nicke, denn ich kann es nicht ertragen, ihm die Wahrheit zu sagen. Nicht mal, wenn er mir beweist, wie gut er mich kennt. Nicht mal, wenn er meine Antwort schon weiß. Denn ich hoffe immer noch, dass er die Leere füllen kann und die Sehnsucht und dass all dies genug sein wird, wenn ich morgen früh in seinen Armen erwache.
24
M ittlerweile verbringe ich den größten Teil meiner Zeit auf der Dachterrasse, einem Ort, an dem Travis mich wegen seines Beines nicht erreichen kann. Ich weiß nicht, womit er sich die Zeit vertreibt, während ich am Rand der Holzbretter sitze und die Beine über die Ungeweihten zwei Stockwerke unter mir baumeln lasse.
Der Sommer war heiß und trocken, jeden Nachmittag warte ich auf den Regen, der niemals kommt.
Nun trage ich wieder meine eigenen Kleider, sämtliche Kleidungsstücke der Hausfrau liegen ordentlich gefaltet in der Truhe, der Deckel ist gut verschlossen. Wenn ich über den Dachboden zu meinem Hochsitz gehe, versuche ich zu vermeiden, diese Kästen an der Wand anzusehen, aber einen verstohlenen Blick werfe ich immer darauf. Und ich frage mich stets, welche Schätze noch darin verborgen sein mögen.
Travis habe ich – allerdings nicht laut – versprochen, so ein Risiko nicht mehr einzugehen, uns beide nicht wieder in Gefahr zu bringen. Ich werde versuchen, mit unserem kleinen Leben glücklich zu sein. Und dennoch
kann ich meine Neugier nicht bezwingen. Ständig denke ich daran, was ich wohl noch in diesen Kisten finden könnte.
Und so kommt es, dass ich mich eines Nachmittags, als ich die Langeweile nicht länger ertrage, auf den Dachboden verziehe und ihren Inhalt untersuche. Nur kurz betaste ich den weichen Stoff, die glänzenden Knöpfe, dann schiebe ich die Kleider beiseite. Es gibt noch mehr Kleidung, dicke Wintermäntel,Westen wie die Gabrielles, nur in gedämpfteren Farben. Ich streiche mit dem Finger darüber, dann zwinge ich mich dazu, sie schnell wegzulegen, weil ich sofort wieder darüber nachdenke, wer diese Kleider getragen haben mag.
An die Bewohner dieses Dorfes und ihre verloren gegangenen Geschichten darf ich nicht denken.
Am Boden einer der Kisten finde ich einen Stapel Bücher mit rissigen Ledereinbänden. Vorsichtig nehme ich sie heraus, das Leder zerbröselt, als ich sie aus ihrem Versteck hole. Ich schlage das erste Buch auf und fahre mit dem Finger die Seite hinunter. Es ist eine Fotografie mit vergilbten Kanten, ein Baby ist darauf abgebildet.
In meinem Leben habe ich erst eine Fotografie gesehen, die, die vor so vielen Jahren den Flammen zum Opfer gefallen ist. Und wieder schockiert mich, wie lebensecht das Bild ist, wie dieses Bild einen einzelnen Menschen in einem Augenblick seines Lebens gefangen und für alle Ewigkeit eingefroren hat, sodass Fremde wie ich darüber staunen und grübeln können.
Vorsichtig blättere ich um und finde weitere Fotos.Von
einem kleinen Zimmer, in das die Morgensonne durchs Fenster scheint. Ein junger, unrasierter Mann liegt auf dem Bett, und seine Hand schwebt zärtlich über dem Baby vom ersten Bild, das nun schlafend unter den Decken liegt.
Von einem Kind, das am Tisch sitzt, der lachende Mund ist vom Essen verschmiert.
Von einem kleinen Mädchen, das noch unsicher auf den Beinen steht und sich mit einer Hand am Tisch festhält, einem gesichtslosen Mann, der die Hände nach ihr
Weitere Kostenlose Bücher