The Forest - Wald der tausend Augen
ausstreckt, bereit, sie aufzufangen, sollte sie fallen.
Und dann sind da Fotos, die draußen aufgenommen worden sind. Ein Kind auf einer Schaukel, eine Frau, die danebensteht und zuschaut, wie das Kind hoch in die Luft fliegt. Ein Kind mit Rattenschwänzchen, das die Backen bläht und dünne Kerzen auf einem Kuchen auspusten will.
Fasziniert blättere ich die Seiten immer schneller um und verfolge, wie dieses Kind wächst.
Bis ich zu einem Foto von einem jungen Mädchen komme, dem das nasse schwarze Haar über die Schultern fällt. Ihre Mutter steht hinter ihr und hält sie in den Armen. Um sie herum sind die Kämme der Wellen für alle Ewigkeit erstarrt, ihre weichen weißen Hauben gebannt, bevor sie brechen.
Das ist das Meer. Genau wie auf dem Bild von meiner vielfachen Urgroßmutter als Kind. Und für einen Moment stockt mir der Atem, denn das kleine Mädchen auf dem Bild sieht so aus wie ich. Und die Mutter hat Ähnlichkeit mit meiner Mutter.
Tränen drücken mir die Luft ab und ich spüre mein Zittern. Auch noch, als ich erkenne, dass dieses kleine Mädchen niemals ich sein könnte: ihre Arme sind zu lang und schlaksig, die Mutter ist kleiner und dicker als meine. Aber für einen Moment, einen Herzschlag lang, ehe ich diese Feinheiten ausmachen kann, versinke ich in der Vorstellung von meiner Mutter und mir und dem Meer.
Ich blättere den Rest des Buches durch, aber die übrigen Seiten sind leer und kahl. Das ist das letzte Foto. Ein Mädchen, dem ich nie begegnet bin. Das vor der Rückkehr existiert hat. Im Meer mit ihrer Mutter, in Sicherheit.
Plötzlich ist mir das Dach hier oben zu niedrig. Dieses Haus reicht mir nicht mehr. Ich weiß, dass mir diese Einsamkeit nie in Fleisch und Blut übergehen wird, und mir wird klar, dass ich mich noch immer nach dem Meer sehne. Nur in diesem Leben herumzusitzen und sicher zu sein, reicht nicht.
Diese Einsicht schmerzt. Das kann nicht wahr sein. Ich schüttele den Kopf und versuche, mich davon zu überzeugen, dass ich hier glücklich bin mit Travis. Dass dies hier ist, was ich immer gewollt habe: Sicherheit und Liebe.
Die Luft um mich herum ist zu dick, sie bedrängt und bedrückt mich, ich stolpere zur Tür und hinaus auf den Balkon, von dem aus die anderen auf ihrer Plattform zu sehen sind. Das grelle Licht blendet mich und ich muss mir die Augen wischen.
Den Rest des Nachmittags beobachte ich die anderen bei ihren täglichen Verrichtungen. Manchmal bleibt einer
von ihnen stehen und winkt mir zu, dann winke ich zurück, aber meistens leben sie ihr Leben so, als wäre ich nicht da, als würde ich nicht über ihnen schweben und alles genau unter die Lupe nehmen.
Ihr Haus in den Bäumen ist primitiver als das, das Travis und ich bewohnen. Die Wände sind aus ungehobelten Baumstämmen, die Fenster unverglast. Es ist schwer festzustellen, wo der Baum endet und das Haus anfängt, so breitet es sich in den Ästen aus. Das Ganze ist von einer großen Veranda umgeben, von der hölzerne Plattformen und Wege wie ein Gitternetz über dem Dorf in andere Bäume abzweigen. Ihre Vorräte sind anscheinend reichlich bemessen, denn ich habe sie essen und lachen sehen.
Und obwohl sie jede Menge Platz haben, sich auszubreiten, scheinen sie es vorzuziehen, zusammenzubleiben und alle unter demselben Dach zu leben.
Eine glückliche Familie. Wie die Familie auf den Fotografien.
Eines Tages ziehen Harry und Jed einen Tisch nach draußen, jetzt nehmen sie ihre Mahlzeiten im Freien ein, und ich beobachte, wie sie lachend die Köpfe zurückwerfen. Ich beobachte, wie Harrys Hand jetzt nie weit von Cass’Taille weicht.Wie er mehr Zeit mit Jakob verbringt, so als wäre er sein eigener Sohn.
Obwohl ich über den Lärm der Ungeweihten hinweg nichts aus ihrer Welt hören kann, scheint sie so viel heller, lauter und voller zu sein als meine. Im Gegensatz dazu fühlt sich mein Haus still und leer an.
Nicht dass Travis und ich nicht reden würden, das tun
wir nämlich.Worte scheinen zwischen uns allerdings nicht mehr nötig zu sein. Mit einem Blick, mit einem Gedanken kennen wir den Wunsch des anderen. Und deshalb scheint unsere Welt in Schweigen versunken zu sein.
Jeder für sich versuchen wir, den besten Weg aus diesem Haus, aus diesem Leben zu erdenken. Wir grübeln darüber, wie wir die anderen erreichen und aus diesem Dorf fliehen können. Mir wird schon ganz unbehaglich bei dem Gedanken, den Pfad entlangzulaufen und das nächste Tor zu suchen, das nächste Dorf, das Meer. Und nach
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