The Green Mile
später wurde mir klar, dass Dickens’ Romane in seiner Zeit auf sehr ähnliche Art und Weise Familien erfreut hatten. Der Unterschied war nur, dass sie über Jahre hinweg am Kamin mit Pip und Oliver und David Copperfield mitleiden oder sich freuen konnten – nicht nur ein paar Monate lang (selbst die längsten Serien in der Post hatten selten mehr als acht Fortsetzungen).
Es gefiel mir noch etwas anderes an der Idee, ein Aspekt, den wohl nur der Verfasser von Spannungsromanen und Gruselgeschichten voll zu schätzen weiß: Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veröffentlicht wird, gewinnt der Schriftsteller eine Überlegenheit über den Leser, in deren Genuss er sonst nicht kommt: Einfach gesagt, treue Leser, Sie können nicht vorausblättern und nachsehen, wie die Sache ausgeht.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal in unser Wohnzimmer spazierte, als ich zwölf war, und meine Mutter in ihrem geliebten Schaukelstuhl saß. Verstohlen blinzelte sie auf das Ende eines Agatha-Christie-Taschenbuchs, während ihr Finger das Buch erst bis Seite fünfzig oder so aufgeschlagen hielt. Ich war entsetzt, und das sagte ich ihr (ich war zwölf Jahre alt, wohlgemerkt, ein Alter, in dem Jungs verschwommen zu merken beginnen, dass sie alles wissen). Ich erklärte ihr, wenn man das Ende eines Krimis lese, bevor man tatsächlich dort anlange, sei das so, als ob man die weiße Creme zwischen den Hälften eines Oreo-Kekses äße und dann den eigentlichen Keks einfach wegwürfe. Sie lachte ihr wundervolles ungeniertes Lachen und sagte, das möge vielleicht so sein, aber manchmal könne sie der Versuchung einfach nicht widerstehen. Der Versuchung erliegen, das war eine Sache, die ich verstehen konnte: Das passierte mir auch oft, sogar mit zwölf. Aber jetzt gibt es endlich ein amüsantes Mittel gegen die Versuchung. Bis die letzte Episode im Buchhandel eintrifft, weiß keiner, wie The Green Mile ausgeht … und das schließt mich vielleicht ein.
Ralph Vicinanza konnte es unmöglich wissen, aber er erwähnte die Idee, einen Roman in Fortsetzungen zu veröffentlichen, bei mir in einem psychologisch perfekten Augenblick. Ich hatte mit einer Romanidee gespielt, mit einem Thema, bei dem mir klar war, dass ich es früher oder später anpacken musste: der elektrische Stuhl. »Old Sparky« hat mich fasziniert, seit ich meinen ersten James-Cagney-Film sah, und die ersten Geschichten über Todeszellen, die ich las (in einem Buch von Warden Lewis E. Lawes mit dem Titel Twenty Thousand Years in Sing Sing), regten die dunklere Seite meiner Fantasie an. Ich fragte mich, wie es sein mag, wenn man diese letzten vierzig Yards zum elektrischen Stuhl geht und dass man dort stirbt. Und, was das anbetrifft, wie mag es sein, wenn man der Mann ist, der den zum Tode Verurteilten festschnallt oder den Hebel betätigt? Was würde solch ein Job einem nehmen? Oder, noch gruseliger, was würde er einem vielleicht geben?
Ich hatte diese Grundideen im Laufe der vergangenen zwanzig oder dreißig Jahre bei einer Reihe verschiedener Rahmenhandlungen versuchsweise ausprobiert. Ich hatte bereits eine erfolgreiche Novelle geschrieben, die im Gefängnis spielt ( Pin-Up ), und war zu dem Schluss gelangt, dass dieses Thema vermutlich ideal für mich war, als diese Herangehensweise zur Sprache kam. Es gab vieles, was mir daran gefiel, aber vor allem faszinierte mich die Stimme des Erzählers. Leise, ehrlich, vielleicht ein bisschen naiv: Er ist ein Stephen-King-Erzähler, wie er im Buche steht. So machte ich mich an die Arbeit, aber auf vorsichtige Weise und mit Unterbrechungen. Das meiste des zweiten Kapitels wurde während eines durch Regen bedingten unfreiwilligen Aufenthaltes im Fenway Park geschrieben!
Als Ralph anrief, hatte ich eine ganze Kladde voller Seiten von The Green Mile, und ich erkannte, dass ich einen Roman aufbaute, während ich meine Zeit mit dem Überarbeiten eines bereits fertigen Buchs ( Desperation – Sie werden es bald sehen, treue Leser) hätte verbringen sollen. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit The Green Mile so weit, dass ich nur die Wahl hatte, es entweder wegzulegen (und vermutlich nie fortzusetzen) oder alles andere wegzulegen und weiterzumachen.
Ralph schlug eine mögliche dritte Alternative vor, eine Geschichte, die auf die gleiche Art und Weise geschrieben werden konnte, wie sie gelesen wurde – in Fortsetzungen. Und mir gefiel auch der riskante Aspekt: Scheitere an dem Job, schaff es nicht, ihn termingerecht durchzuziehen,
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