The Haunted
manchmal, wenn ihr euch bei Irvings Grab hingesetzt habt, bin ich ein bisschen bei euch geblieben. Mir war dann immer so, als würde ich dazugehören.« Plötzlich veränderte sich seine Miene. »Dein Gesichtsausdruck hat in diesen Momenten alles gesagt, dein Lachen hat Bände gesprochen.« Caspian sah auf seine Hände. »Mir war klar, wie nah ihr euch wart. Sie hat dich geliebt.«
Meine Augen wurden feucht und eine Träne kullerte über meine Wange, bevor ich sie wegwischen konnte. »Glaubst du?«
Er nickte und ich musste leise lachen, als ich mich plötzlich an etwas erinnerte. »Weißt du, einmal, an Ostern, hat Kristen gemeint, es wäre doch nett, wenn wir ein paar Ostereier für die verstecken würden, die hier ›leben‹. Wir waren damals so um die zehn.« Ich lachte wieder. »Also haben wir drei Dutzend bunte Eier mitgenommen und sie überall versteckt. Aber als wir fertig waren, sahen alle Verstecke gleich aus und wir wussten nicht mehr, wo wir die Eier hingelegt hatten.
John, der Friedhofswärter, hat Wochen gebraucht, um sie zu finden. Einige sind sicher von Tieren gefressen worden, wir haben nämlich nie mehr alle gefunden. Aber immer, wenn ein bisschen Wind wehte, wussten wir, ob ein Ei in der Nähe war oder nicht. Faule Eier stinken widerlich.«
Er fing an zu lachen und ich stimmte ein. »Heute habe ich natürlich ein schlechtes Gewissen, wenn ich an all die Leute denke, die auf den Friedhof gehen, weil sie ihre geliebten Verstorbenen besuchen und dort nicht auf faule Eier treten wollen, aber damals war es ziemlich lustig.«
Caspian musterte mich stumm. Er wirkte ziemlich ernst. »Deine Liebe zu Kristen schimmert jedes Mal durch, wenn du über sie sprichst«, meinte er schließlich.
Ich nickte und breitete die Hände aus. »Sie war die Beste.«
»Und was war mit ihrem Bruder?«
Ich lehnte mich zurück und studierte die Unterseite der Brücke. Jedes Mal, wenn ein Auto über uns hinwegbrauste, spürte ich die Vibration am ganzen Körper. »Sie vergötterte ihren großen Bruder und er liebte seine kleine Schwester genauso sehr. Obwohl er acht Jahre älter war als sie, standen sich die beiden sehr nah. Natürlich haben sie sich hin und wieder auch mal gestritten, aber das kam äußerst selten vor.«
Auch Caspian lehnte sich zurück und ich warf ihm einen Blick zu. »Komisch, oder? Ich kann mir gar nicht vorstellen, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Ich meine, Kristen und ich standen uns ja auch sehr nah, aber jemanden zu haben, in dessen Adern dasselbe Blut fließt?« Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht«, sagte Caspian.
»Ich auch«, gab ich zu. »Jemand, der mich beschützt und in der Schule verteidigt. Als ich kleiner war, haben Mom und Dad überlegt, ob sie ein Baby adoptieren sollen. Aber irgendwann haben sie diese Idee fallen lassen. Keine Ahnung, warum.«
Er sah mich an. »Und was war mit Thomas?«
Trauer stieg in mir auf. Obwohl es schon viele Jahre her war, fiel es mir schwer, darüber zu reden. »Er ist an einer Überdosis Tabletten gestorben. Alle dachten, es sei ein Versehen gewesen, aber ich glaube, Kristens Familie … sie wussten es.«
»Was wussten sie?«
»Dass es vielleicht doch kein Versehen war.« Ich hielt kurz inne, damit er die Bedeutung meiner Worte erfassen konnte. »Weißt du, Kristens Bruder war abhängig von Schmerztabletten. Als sie drei Jahre alt war, hat er mal auf sie aufgepasst. Er hat sie kurz auf dem Tisch abgesetzt und sie verlor das Gleichgewicht und wäre fast heruntergepurzelt. Er hat sie gerade noch erwischt und sie auf dem Boden abgesetzt. Aber dann ist er über ein Stuhlbein gestolpert und aus dem Fenster gefallen.«
Caspian krümmte sich und auch mich durchfuhr ein Schmerz. Es war wirklich eine grässliche Geschichte.
»Sie lebten damals in einer Wohnung im zweiten Stock. Er hatte Verletzungen im Gesicht und an den Händen, die mit zwölf Stichen genäht werden konnten. Aber er hatte sich auch einen Wirbel gebrochen.«
Caspian nickte kurz. »Deshalb die Schmerzmittel.«
»Ja. Er ist zwei Mal operiert worden. Eigentlich hätte er noch eine dritte Operation gebraucht, aber die konnten sie sich damals nicht leisten. Also hat er Pillen genommen, wenn er die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte.
Die arme Kristen, sie hat immer gedacht, es sei ihre Schuld. Egal, wie oft ich versucht habe, ihr das auszureden, sie hat mir nie geglaubt. Und wann immer Thomas etwas brauchte – ein Heizkissen oder ein frisches
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