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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Nacht mehrere Fenster eingedrückt. Windstärke zwölf. Sie sieht mich an, als ob sie auf eine Reaktion von mir warten würde.
    Ich sage ihr, dass ich keine Ahnung habe, was das bedeutet, ob es viel ist oder wenig.
    »Letztes Jahr hatten wir einmal Windstärke dreizehn«, sagt sie, »dabei wurde ein Passagierzug umgeworfen, und es gab mehrere Tote.«
    Die Straße durch das Tianshan-Gebirge führt in einer langen Schlucht nach Norden, links und rechts sind Felsen, es ist staubig und grau. Becci ruft an und fragt, warum ich überhaupt noch laufe. Ich könne doch auch einfach alles stehen und liegen lassen und sofort zu Juli fahren, anstatt weiter zu leiden. Ich sage: »Ich muss erst in Ürümqi ankommen, es geht nicht anders.«
    »Warum?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Kommst du nach Hause?«
    Ich sage, dass das nicht geht.
    Dann fällt ihr noch ein: »Was wirst du mit deinem Bart und deinen Haaren machen, wenn du zu ihr fährst? Abschneiden?«
    Ich kann nicht darüber nachdenken.
    Meine Füße tragen mich, das GPS zeichnet meinen Weg auf. Ichüberquere staubige Brücken, quetsche mich an Lastern vorbei, sehe einen glitzernden Bach. Manchmal nehme ich eine der Kameras hervor und mache ein Foto von irgendetwas. Von einer Brücke oder von einer Straße, von den Bergen und vom Himmel darüber.
    Ich versuche, regelmäßig zu essen, wie es mein Vater geraten hat. Es gelingt nicht immer. Ich nage an einem Apfel herum, an ein paar Keksen, manchmal esse ich ein bisschen Reis. Abends, wenn ich in einem Dorf ein Zimmer gefunden habe und auf die Nacht warte, wasche ich meine Füße und meine Socken, lese das GPS aus und sortiere die Fotos, die ich gemacht habe. Sie kommen mir fremd vor. Auf dem Bildschirm huschen Landschaften vorbei, fast nie sind Menschen darin zu sehen. Einige Bilder lösche ich, ein paar stelle ich in den Blog. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Hier bin ich vorbeigelaufen? Das ist das Einzige, was mir dazu einfällt.
    Ich rufe Lehrer Xie an. Er war es, der mich damals davor gewarnt hat, Juli zu verlieren. Er muss einen Rat wissen. Es dauert eine Weile, bis ich ihn erreiche. »Kleiner Schurke«, sagt er sanft, »du musst herausfinden, was dir am wichtigsten ist. Alles andere kommt von selbst.«
    Ich laufe in den Herbst hinein. Auf der anderen Seite des Tianshan-Gebirges verabschiedet sich die Gobi und geht in eine gelbliche Landschaft über. Ich sehe Gras, das spröde in den Himmel starrt, und welke Blätter. Nur ab und zu blitzt noch ein Fleck Wüste hervor.
    Einmal komme ich an einen See und bleibe stehen. Seine Oberfläche liegt still vor den Bergen, die Sonne spiegelt sich darin tausendfach zersplittert.
    Zhu Hui ruft an. Seine Stimme klingt genauso tief und beruhigend wie immer. Er lacht und sagt: »Kleiner Lei, Schicksal ist Schicksal. Das, was du haben sollst, wirst du auch bekommen. Und wenn das Schicksal dir etwas nicht zugedacht hat, dannbrauchst du jetzt nicht traurig zu sein. Komm erst mal nach Ürümqi, Onkel Shen und ich warten auf dich!«

ES IST ZEIT
    Als ich Ürümqi erreiche, ist Zhu Hui nicht da, nur Onkel Shen. Ich warte vor einem Hotel im Süden der Stadt auf ihn, er kommt mir auf seinem Fahrrad entgegen. Als er mich sieht, schaut er überrascht: »Junge, wie siehst du denn aus?«
    Ich bringe nur noch ein schiefes Lächeln zustande. Die letzten Tage haben mich ausgelaugt.
    Gestern Morgen wachte ich in einem Hinterhof auf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Überall Staub, rote Ziegel und Propagandaplakate. Ich sagte meinen Gastgebern Lebewohl, und die Tante, der ich mein Leid geklagt hatte, gab mir die Einsicht mit auf den Weg: »Die Zeit wird alles richten.«
    Als ich losging, war der Himmel blau und klar. Ich passierte Windradfelder und Birkenwälder, und manchmal konnte ich beim Laufen die Berge sehen. Dann kam ich zu einem Tal, in dem die Luft trüb und stickig wurde, und ich wusste: Die Stadt ist nicht mehr fern.
    Um mich herum waren mit einem Mal überall Fahrzeuge. Die Straße verbreiterte sich und schickte mich über Brücken. Ich sah einen Kanal unter mir, eine Eisenbahnstrecke und eine dreispurige Autobahn. Ich las ein großes Schild, auf dem stand: EINEN HARMONISCHEN TIAN SHAN AUFBAUEN.
    Dann überschritt ich die Stadtgrenze. Mein Weg führte mich durch eine lange Allee, auf die die Bäume ihr Laub ausgeschüttet hatten. Ihre Zweige waren fast kahl, ihre Blätter auf dem Boden waren orange und gelb.
    Onkel Shen steht vor mir. Er ist gekommen, um mir den Weg in

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