The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
beherbergte. Ich traf auf eine Reisegruppeaus Hongkong, die sich königlich über den ganzen Kitsch amüsierte, und als sie mich fragten, warum ich zu Fuß unterwegs sei, sagte ich, ich wolle halt etwas erleben.
In der Dämmerung erreichte ich Turpan, nahm mir ein Zimmer in einem großen Hotel und ließ mich auf das Bett fallen. Ich schickte Juli eine SMS. Sie antwortete: Lass uns morgen reden.
Heute ist morgen. Ich habe lange geschlafen, dann habe ich mir die Zeit mit Blogschreiben und Fotosortieren vertrieben.
Es ist kurz nach vier, als ihr Name auf meinem Bildschirm aufleuchtet: »Juli.«
Ich mache einen Doppelklick auf das Bild neben ihrem Namen, ein schwarzes Fenster geht auf, es klingelt eine Zeit lang. Ein Klicken, das Bild baut sich langsam auf, dann sehe ich sie: Sie sitzt in ihrem Münchner Zimmer, vor sich auf dem Tisch hat sie ein Glas Tee stehen, sie guckt in die Kamera, sie sieht schön aus.
»Hey«, sage ich, »du siehst schön aus.«
Sie lächelt und guckt weg.
Dann fragt sie: »Hast du ein gutes Hotel? Hast du gut gegessen? Geht es deinen Füßen gut?«
Ich sage, dass alles in Ordnung ist. Ich muss nur schneller laufen, wenn ich vor dem Wintereinbruch in weniger schwierigen Gebieten ankommen will. Vielleicht kann ich irgendwo überwintern und Russisch lernen, vielleicht mit ihr zusammen, wenn sie Ferien hat.
Es wird still.
Ich frage: »Wie geht es dir?«
Stille.
»Leike«, sagt sie. Sie spricht mich sonst nie mit diesem Namen an. »Ich will mich von dir trennen.«
Ich bin nicht erschreckt oder entsetzt. Ich frage: »Warum das denn nun schon wieder?«
Sie sagt, dass sie sich früher gewünscht hat, ich würde bei ihr sein. Sie hat sogar gehofft, dass irgendwo ein Aufstand ausbrechen würde, nur damit ich aufhören würde zu laufen. Doch siehat erkannt, dass alles andere wichtiger ist als sie.
Ich frage, was mit dem Sommer war, mit Chengdu und Hainan, was mit meinem Besuch bei ihr in München.
Stille.
Sie wechselt die Sprache, jetzt redet sie auf Deutsch: »Es ist wirklich vorbei. Ich bin fremdgegangen.«
Irgendwann gibt es nichts mehr zu sagen. Sie bleibt stumm, während ich mit dem Mauszeiger auf »Gespräch beenden« gehe und auf den Knopf drücke. Ich weiß, dass das Fenster sich erst schließt, wenn ich den Druck wieder löse. Ich blicke Juli an, sie dreht den Kopf weg, dann lasse ich den Mausknopf los, und das Fenster geht zu.
Ein blanker Bildschirm. Sie ist weg.
Ich lege mich auf das Bett und blicke zur Decke. Einen Moment lang ist da nichts, nur das Weiß des Raums und die Weichheit der Bettwäsche.
Dann kommt die Erkenntnis. Tröpfelnd erst, dann wie ein Strom, der sich Bahn gebrochen hat, und schließlich schwappt sie über mir zusammen wie ein Ozean.
Juli ist wirklich weg.
Als ich vom Weinen müde geworden bin, rufe ich meinen Vater an. Er sagt: »Oh, Scheiße.« Ich soll das Essen und Trinken nicht vergessen, sagt er, und dass er mich gern in den Arm nehmen würde.
Ich brauche Luft. Ich stürme zur Tür hinaus, den Hotelflur entlang, die Treppen hinunter, an der Rezeption vorbei, durch die Eingangstür. Dann stehe ich im Freien und blicke mich um.
Der uighurische Parkplatzwächter mit seinem Schnauzbart und der Uniform ist ziemlich groß gewachsen. Ich gehe auf ihn zu, breite die Arme aus, er guckt mich verdutzt an, dann umarme ich ihn und vergieße Tränen auf seine Uniformjacke. Er klopft mir auf die Schulter, dabei murmelt er uighurische Worte.Es hört sich an wie etwas, das man einer Taube zugurren würde.
Ich gehe weiter, die Straße hinunter bis zu dem Eckrestaurant, in dem ich gestern Abend gegessen habe. Die Besitzer sind aus Sichuan, Julis Heimatprovinz. Sie fragen mich, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich halte meine Tränen zurück und bestelle wahllos zwei Gerichte zum Mitnehmen in einer Plastiktüte, dann gehe ich zum Hotel zurück.
Ich betrete die Eingangshalle und gehe an der Rezeption vorbei, setze meinen Fuß auf die erste Treppenstufe. Dann kehre ich noch einmal um, gehe zur Rezeption zurück.
»Gibt es hier außer mir noch andere Ausländer?«, frage ich.
Die Rezeptionistin guckt irritiert.
»Ich würde gern Ausländer kennenlernen«, sage ich und versuche, es so normal wie möglich klingen zu lassen.
Sie nickt. Im fünften Stock seien zwei Männer aus Holland, das seien die einzigen Ausländer. Sie sagt es mit einem seltsamen Unterton, doch ich frage nicht weiter nach. Ich laufe zur Treppe.
Der Hotelflur ist lang und dunkel. Ich stehe mit
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