The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
plötzlich sehr leicht an.
Ich blicke mich hilfesuchend nach Onkel Shen um. Er lächelt überrascht und sagt: »Du bist ja wirklich noch ein kleiner Junge.«
Zhu Hui ruft an. Sein Zug aus Shihezi ist gerade angekommen, er ist auf dem Weg zu uns.
Als er mich sieht, lacht er laut auf. »Kleiner Lei!«, ruft er. »Ein Jahr hast du gebraucht für die kurze Strecke von Beijing bis hierher, und jetzt sehen wir uns endlich wieder, und du machst so ein langes Gesicht?«
Er nimmt mich mit in ein Einkaufszentrum, um mich neu einzukleiden. Ich besorge mir Sportschuhe, eine gefütterte Jacke, eine Hose und ein Hemd.
Als ich alles angezogen habe und in den Spiegel blicke, komme ich mir noch fremder vor als vormittags nach dem Friseur.
Es ist mein letzter Abend in Xinjiang. Wir gehen zusammen inein großes Restaurant, in dem es Feuertopf gibt. »Feuertopf, wie damals in Gucheng!«, sagt Zhu Hui, und seine Augen leuchten. Wir sind zu sechst, er hat noch ein paar Freunde eingeladen.
Wir essen und trinken. Onkel Shen lobt mich für meinen Appetit, und ich erzähle: wie ich vor einem Jahr von Beijing aufbrach, weil ich etwas erleben wollte. Wie ich am Anfang Zhu Hui kennengelernt habe und Onkel Shen in der Mitte, wie ich am Ende mit Lehrer Xie durch die Wüste gelaufen bin und mit meinem Bruder. Ich erzähle von Juli. Davon, dass ich alles falsch gemacht habe. Dass ich morgen zu ihr fliegen werde, um sie zumindest noch einmal zu sehen.
Als ich fertig bin, steht einer von Zhu Huis Freunden auf und erhebt sein Glas. Er ist schon ein bisschen angetrunken.
»Mein deutscher Freund Leike«, sagt er. »Ich freue mich, dass eines von unseren chinesischen Mädchen so aufrichtige Gefühle in dir wecken konnte. Ich wünsche dir, dass sie dich erhört und dass du bei ihr bleiben oder wiederkommen und weiterlaufen kannst, je nachdem, was dich glücklicher macht!«
Ich halte mein Glas gegen das seine, unter uns brodelt der Feuertopf, die anderen blicken mich an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich sage: »Danke, mein Freund.«
Mein Flug geht am Vormittag. Zhu Hui, Onkel Shen und ich stehen in der Halle des Flughafens von Ürümqi. Die beiden haben mich im Taxi hierhergebracht.
»Kommst du wieder, Junge?«, fragt Onkel Shen.
Ich sage, dass ich es nicht weiß.
»Das ist gut«, sagt Zhu Hui, »fahr erst mal hin und guck, wie es sich entwickelt. Alles andere läuft dir nicht weg.«
Als ich meinen Sitzplatz im Flugzeug gefunden habe, rufe ich Lehrer Xie an. Ich habe Glück, er geht sofort an sein Telefon.
»Lehrer Xie, ich sitze im Flugzeug«, sage ich.
»Kleiner Schurke!«, ruft er vergnügt.
Und für einen Moment ist es wieder da, dieses Gefühl, mit ihm unterwegs zu sein und die ganze Wüste vor sich zu haben.
PFERDEHUFLOTOS
Zantedeschia aethiopica ist eine Blume, die so zart aussieht wie eine traurige Tänzerin. In Geschäften wird sie oft als Calla oder Calla-Lilie angeboten, aber eigentlich ist sie keines von beiden. Sie ist eine Zantedeschie. Sie kommt aus dem Süden Afrikas, sie mag es warm und nicht zu trocken, und sie wird auf der ganzen Welt gezüchtet. Auf Chinesisch heißt sie Matilian – »Pferdehuflotos«.
Es gab einen Abend im August, als ich mit Juli durch die schwülwarmen Straßen von Chengdu lief. Ich hatte meine Kameras im Hotel gelassen, denn wir waren auf dem Weg zu einem Abendessen. Ich hielt ihre Hand in der meinen.
Als wir an einem Blumengeschäft vorbeikamen, blieb sie stehen und zeigte hinein. Die Tür war offen. Ich sah lange, schlanke Hälse, die sich im Neonlicht streckten. Weiße Köpfe, kelchförmig und zart.
»Meine Lieblingsblume«, sagte Juli. Sie kannte die deutsche Bezeichnung. Sie sprach sie aus wie den Namen der Freundin, die für mich damals den eingesalzenen Streifenfisch zu ihr geschickt hatte: Carla.
Ich wohne bei Louises Eltern in München. Sie sind verreist, ich habe einen Schlüssel für das Haus bekommen und bin allein.
Jeder Tag ist gleich. Ich stehe auf, nehme eine Dusche, gehe zur Tür hinaus und laufe durch die Stadt. Wenn ich an einem Blumenladen vorbeikomme, frage ich nach einer Calla, nach einer weißen, wenn möglich. Ich trage sie zu Julis Wohnung und lege sie ihr vor die Tür. Dann laufe ich weiter wie ein Schatten durch die Stadt, die ich während des Studiums so gehasst habe.
Nach einer Woche bekomme ich eine E-Mail von einem ihrer Mitbewohner. Er sagt, die Blumen seien sehr schön, aber ich müsse wissen, dass Juli gar nicht zu Hause sei. Sie sei zu
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