The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
einerFreundin gefahren.
Ich kaufe Baldrian, um wieder schlafen zu können.
Nachts liege ich in dem leeren Haus auf dem Bett und starre an die Decke. Vor zwei Wochen noch war ich bei Burhan und streckte mich auf dem harten Teppich aus. Jetzt bin ich in einem Bett, es ist weich, an der Wand stehen Regale voller Bücher. Eigentlich müsste ich mich über sie freuen.
Ich habe nur ein einziges Buch gelesen während dieses ganzen Jahres, die Geschichte eines südchinesischen Mannes, der seine ganze Familie verliert und am Ende dennoch seinen Frieden findet.
Als ich am Morgen des 5. November aufwache, meldet mein Telefon eine Nachricht von Juli. Sie will mich treffen, in einem Café an der Isar, in zwei Tagen.
Ich jubiliere.
Ich gehe aus dem Haus und esse einen großen Hamburger mit Pommes. Dazu nehme ich noch ein Softeis. Ich starre ihre Nachricht an, immer und immer wieder. Treffen, Café, Isar.
Die Welt hat sich verändert. In der Nacht wurde Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, alle Fernsehsender, alle Zeitungen und Magazine zeigen sein Bild. Er sagt eigentlich immer nur ein Wort: »Change.«
Er sieht sehr optimistisch aus.
Am Nachmittag des 7. November betrete ich das Café und blicke mich um: Holzvertäfelung, Spirituosenflaschen hinter der Theke, Loungemusik, schickes Ambiente. Ich denke: Oh Juli, warum hier? Dann nehme ich an einem Tisch Platz. Ich bin mehr als eine Stunde zu früh.
Ich schaue die Getränkekarte durch: Kaffee, Säfte, Cola, Wasser, Alkohol. Verheißungsvolle Namen, die nach Whiskey, Rum, Wodka oder Tequila klingen.
Ich bestelle einen Orangensaft.
Dann gehe ich auf die Toilette.
Ich trinke den Saft leer und bitte die Bedienung, den Tischabzuräumen. Juli soll nicht sehen, wie lange ich schon hier bin.
Ein weiterer Blick auf die Getränkekarte.
Ich ordne die klein gedruckten Texte den einzelnen Getränken zu. Nummer eins ist chininhaltig. Nummer zwei hat Konservierungsstoffe.
Ich starre aus dem Fenster.
Ich schaue auf mein Handy.
Ich überlege, ob ich noch einmal auf die Toilette gehen soll.
Dann kommt sie.
Sie steht in der Tür und sieht sich um. Ich winke, sie kommt auf mich zu. Sie lächelt, und ich fühle mich, als müsste ich vom Stuhl fallen.
Ich sage: »Du siehst schön aus.«
Was ich eigentlich sagen will, ist, dass sie schöner ist als die Welt.
Sie trägt Schwarz, eng anliegend, sie hat ein bisschen Lidschatten aufgetragen. Ich schaue in ihre Augen, und sie sind wie der Nachthimmel über der Gobi – schwarz und leuchtend zugleich.
Sie erwidert: »Du siehst auch gut aus.«
Ich tue so, als ob ich die Getränkekarte lese. Dann sage ich: »Ich glaube, ich nehme einen Orangensaft.«
Sie nimmt Mango.
Wir wechseln einige höfliche Worte.
Dann sagt sie, dass dies das letzte Mal sei, dass wir uns sehen.
Ich stehe orientierungslos an der Isar und weine. »Ich werde auf dich warten«, habe ich zu ihr gesagt, und sie hat geantwortet: »Warte nicht.« Ich renne zum Café zurück. Sie ist nicht mehr da. Ich rufe auf ihrem Handy an, es ist ausgestellt.
Münchens Straßen sind grau. Sie sehen alle gleich aus. Noch zwei Tage bis zu meinem Geburtstag. Ich will nicht hierbleiben.
Ich gehe zurück in das Haus, suche mein Gepäck zusammen und räume hinter mir auf. Ich schnalle die Kameras um, nehme den Rucksack auf den Rücken, werfe den Schlüssel in den Briefkasten und trete aus der Tür. Sie fällt hinter mir ins Schloss. Hier am Nordrand der Alpen, wo alle Welt ständig zum Wandern fährt, falle ich nicht auf. Ich laufe trotzdem lieber auf Nebenstraßen.
Am Bahnhof kaufe ich mir eine Fahrkarte in die Eifel. Mein Großonkel aus Ungarn wohnt dort, unsere Familie feiert jedes Jahr Weihnachten bei ihm. Es ist über drei Jahre her, seit ich das letzte Mal da war.
Als ich in der Eifel ankomme, ist es früher Abend. Meine Großtante steht am Bahnsteig. »Chrischie«, sagt sie, und sie rollt das R, wie die meisten aus dem ungarischen Teil unserer Familie. Aus Mamas Familie.
»Magst du etwas essen?«, fragt sie.
»Ich will zu Mama«, sage ich.
Mama liegt nicht weit vom Haus meines Großonkels entfernt. Wir steigen einen Hügel an, treten durch ein offenes Tor und gehen durch die Gräberreihen. Unsere Schritte knirschen auf dem Kiesweg. Einen Moment lang frage ich mich, wo ich dieses Geräusch zum letzten Mal gehört habe. In den Kiesgruben der Brüder Zhou? In der Einfahrt des Hauses, in dem ich mich vor den Bienen in Sicherheit brachte?
Wir bleiben
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