The Lost
kommen. Echt. Du wirst dich prächtig amüsieren.«
»Tut mir leid. Ich hab schon was vor.«
»Dann sag’s doch ab.«
»Geht nicht.«
»Bist du sicher? Ich sag’s dir, das wird ein großer Spaß. Übrigens, du siehst klasse aus ohne deine Arbeitsschürze.«
»Wie gesagt, ich hab schon was vor.«
»Schade.«
Es war ihr nicht entgangen, dass er sie von der Seite anstarrte.
»Tja, dann vielleicht ein anderes Mal.«
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht trat die rothaarige Bedienung zu ihnen.
»Hey, Ray.«
»Hey, Dee Dee. Schön, dich zu sehen.« Nun richtete er den ganzen gespielten Charme wie einen Scheinwerfer auf Dee Dee. Dem Mädchen stieg tatsächlich die Schamesröte ins Gesicht.
Moment mal. Er kennt sie, dachte Sally. Aber nicht von hier, denn Dee Dee war neu, und er war kein Stammgast. Nein, er kennt sie von woandersher. Außerdem ist sie ganz offensichtlich in ihn verknallt. Ray musste Anfang zwanzig sein, richtig? Ein erwachsener Mann also. Und sie war höchstens sechzehn. Also minderjährig.
»Was kann ich dir bringen?«
»’ne Cola und ’nen Hamburger.«
»Alles klar. Pommes?«
»Nee, Dee Dee. Ich muss auf meine Linie achten.«
»Quatsch, Ray. Du doch nicht.«
Fast hätte sie laut aufgelacht. Jetzt flirtete er mit der Kleinen! Ohne sich klar zu sein, welchen Eindruck das auf sie machte – während sie direkt neben ihm hockte; gerade erst hatte er versucht, mit ihr anzubandeln. Offensichtlich war das für ihn eine Art innerer Zwang. Er konnte nicht anders. Lächelnd wandte Dee Dee sich um und rief die Bestellung aus. Sally verputzte das Sandwich und widmete sich dann dem Eistee. Sie würde wegen dieses Kerls nicht davonrennen, aber auch nicht länger als nötig sitzen bleiben.
»Kennst du das?«, fragte er sie.
Der Scheinwerfer war wieder auf sie gerichtet. Da. Die hochgezogene Augenbraue. Das Grinsen.
Er drehte das Buch um.
Der Prophet von Kahlil Gibran.
Um ein Haar hätte sie den Mund voller Tee ausgeprustet. Sie schluckte und lachte laut auf. Sie konnte es sich nicht verkneifen.
»Du machst Witze.«
»Ein großartiges Buch. Ich hab’s bestimmt schon sechsmal gelesen.« Sein Lächeln war kurz eingefroren, als sie laut gelacht hatte, aber jetzt blitzte der Scheinwerfer wieder auf, mit seinen ganzen zweitausend Watt. Sechsmal? Er verarschte sie schon wieder. Das Buch war nagelneu. Falls er es schon fünfmal gelesen hatte, dann offensichtlich ein anderes Exemplar. Der Umschlag war unversehrt.
Sie hatte ihn bei zwei Lügen ertappt. Erst das Sugar Bowl und jetzt das Buch.
Um ganz sicher zu sein, nahm sie es ihm aus der Hand und schlug es auf. Die Bindung war noch völlig intakt. Sie seufzte und las einen willkürlich ausgewählten Absatz vor.
»›Arbeit ist manifestierte Liebe. Und wer seine Arbeit nicht mit Liebe verrichten kann, sondern nur mit Widerwillen, der sollte sie besser niederlegen, sich an den Eingang des Tempels setzen und die Almosen derer empfangen, die ihre Arbeit mit Freude verrichten. ‹ Unfassbar. Was für ein Schwachsinn.«
Sie war wütend. Sie wusste, dass sie es nicht sein sollte. Oder dass sie es sich zumindest nicht anmerken lassen sollte angesichts dessen, was alle Welt über Ray zu denken schien. Aber ebenso wenig wie ihr Lachen konnte sie sich ihre Wut verkneifen. Dieser schmierige kleine Sack beleidigte in einem fort ihre Intelligenz.
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er starrte sie an, als würde er auf irgendetwas warten.
Tja, wenn er es unbedingt hören wollte, dann sollte es eben so sein.
Sie waren an einem öffentlichen Ort. Hier würde er ihr nichts antun.
»Ist dir eigentlich klar, was der Typ da schreibt, Ray? Er schreibt, dass es besser ist, ein Parasit der Gesellschaft zu sein und andere Menschen für sich arbeiten zu lassen, wenn einem der eigene Job nicht gefällt. Man soll nur Tätigkeiten verrichten, die einem Spaß machen. Klar doch, erschaffen wir eine Welt ohne Müllabfuhr, oder besser noch, eine Welt mit glücklichen Müllmännern. Oder wie wäre es mit glücklichen Scharfrichtern? Und mit glücklichen Bettlern ? Jeder, der über zwölf ist und lesen kann, weiß, dass Kahlil Gibran ein absoluter Vollidiot ist, Ray. Selbst sein Stil ist schlecht. Wen bringst du jetzt als Nächsten, Rod McKuen?«
Sie legte einen Fünfdollarschein auf die Theke – was ein anständiges Trinkgeld für Dee Dee beinhaltete, die sich in diesem Moment alle Mühe gab, sie nicht anzustarren – und rutschte vom Hocker. Leicht entsetzt wurde
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