The Lost
gewesen. Morgen vielleicht für die NAACP. Und übermorgen weiß der Geier was für ein Verein. Das gehörte alles dazu, wenn man William Richmonds Frau war. Fest stand, dass sie bereits einige Drinks zu viel intus hatte und ein paar weiteren nicht abgeneigt war. Das geschah in letzter Zeit immer öfter. Ihre Mutter war auf dem besten Weg, Alkoholikerin zu werden, und ihr Vater schien es nicht einmal zu bemerken.
Aber die Frage erfüllte ihren Zweck.
»Oh, das Mittagessen war nett, aber das Hühnchen fanden wir ein bisschen zäh. Betty Morrison meint, der Koch wäre neu, was nichts Gutes für die Zukunft verheißt. Nächsten Sonntag veranstaltet sie übrigens eine Gartenparty für ihre Tochter Linda. Hast du nicht Lust mitzukommen? Ich glaube, es wird ganz nett.«
Die Morrisons hatten Geld wie Heu, sogar noch mehr als ihr Vater, und ihr Hobby war die Aufzucht von Beagles. Eine Party in ihrem Garten bedeutete ein einziges Gebelle, Gekläffe und Geheule. Nein, danke.
»Ich überleg’s mir. Du, Mom, mir platzt gleich der Schädel. Ich leg mich mal ein Weilchen aufs Ohr, ja?«
Mit Kopfschmerzen kannte ihre Mutter sich aus.
»Alles in Ordnung?«
»Ja. Ist nur der Kopf.«
»Nimm doch ein paar Aspirin, Liebling.«
»Mach ich.«
»Nimm drei. Zwei reichen nicht. Auch wenn’s auf der Packung steht. Nimm drei.«
»Okay.«
Sie ging nach oben und fand es nicht weiter verwunderlich, dass ihre Mutter nicht mehr auf ihre ursprüngliche Frage zurückgekommen war. Ob es nun am Alkohol lag oder an ihrer Ich-Bezogenheit, Sally hatte sie wieder einmal mühelos vom Thema abgebracht. Die schiere Alltäglichkeit der Unterhaltung – die Frage ihrer Mutter, Sallys Ausweichen – hatte ausgereicht, um die Frau zu beruhigen.
Sie hockte sich aufs Bett und überlegte, ob sie Ed anrufen sollte, hielt das aber für keine gute Idee. Aus Verärgerung über Ray könnte er etwas tun, was sie alle in Schwierigkeiten brachte. Es war besser, ihm einen anderen Grund für ihre Kündigung zu nennen, etwas Einfaches wie: Ray ist mir echt nicht geheuer, das ist alles. Und dann würde sie ihn fragen, ob er Charlie Schilling an sein Versprechen erinnern könnte, ihr möglichst bald einen anderen Job zu besorgen. Sie beschloss, die Sache fürs Erste zu verdrängen und sich etwas auszuruhen. Vielleicht würde sie Ed später anrufen.
Sie knipste die Leselampe neben dem Bett an und nahm Der Zauberberg von Thomas Mann vom Nachttisch. Zufrieden blickte sie auf das Lesezeichen. Sie hatte das Buch schon zur Hälfte durch. Sie hielt es an die Nase und roch den muffigen Duft des alten Papiers. Dann schlug sie es auf, und schon nach wenigen Sätzen merkte sie, dass sie tatsächlich in der Lage war, zu lesen und sich in der Geschichte zu verlieren, und dann musste sie plötzlich lachen.
Kahlil Gibran, dachte sie.
Unfassbar.
16
Ray
Es war mal wieder an der Zeit, richtig einen draufzumachen.
Scheiß auf Sally Richmond.
Er organisierte alles von der Rezeption aus, da war kein Problem. Hin und wieder wurde er dabei unterbrochen. Drei Gästepaare checkten ein, und drei Familien und ein Pärchen reisten ab. Seine Mutter war stinksauer wegen Sally, weil sie nach der Mittagspause einfach nicht erschienen war. Ray tätigte einige vorgetäuschte Anrufe bei ihr, um »nachzufragen«, was los sei, dann trieb er eine Aushilfe für sie auf. In der Zwischenzeit telefonierte er ein bisschen in eigener Sache und mobilisierte seine Bewunderer.
Dass er Sally erzählt hatte, er würde eine Party schmeißen, war eine spontane Eingebung gewesen. Doch obwohl er damit bei ihr keinen Erfolg gehabt hatte, fand er das eine gute Idee. Er brauchte etwas zur Aufmunterung. Das hatte er sich verdient.
Gegen fünf hatte er fast alle erreicht. Er hatte versucht, Katherine die Party ebenfalls schmackhaft zu machen, aber sie hatte sich undurchsichtig und geheimnisvoll gegeben und gemeint, er solle bis zum Wochenende warten, er müsse sich noch etwas gedulden, es würde sich lohnen. Er glaubte, ein eindeutiges Versprechen herauszuhören und erklärte, klar, das wäre kein Problem. Das Gespräch versetzte ihn in Erregung und entschädigte ihn ein wenig für den Reinfall mit Sally Richmond.
Den ganzen Tag lang versuchte er sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Man konnte eben nicht alle kriegen, versuchte er sich einzureden. Wahrscheinlich war sie sowieso frigide. Aber es wurmte ihn, dass sie ihn so mühelos durchschaut hatte. Das verdammte Buch hatte er tatsächlich nicht gelesen. Er
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