The New Dead: Die Zombie-Anthologie
streckte die Hand nach dem Seitenspiegel auf der Fahrerseite aus. Er klammerte sich daran fest, als ich mit einer Hundertachtzig-Grad-Wende das tosende Meer hinter uns zurückließ.
Es war wieder der bärtige Mann, der sein Gesicht gegen die Scheibe drückte und dessen Füße über den Boden schlitterten. Ich wollte schon das Fenster herunterkurbeln und ihm gratulieren, als der Seitenspiegel abbrach und der Bärtige sich unfreiwillig verabschiedete.
Die Straße vor uns war frei. Als ich mich zu Dolly umdrehte, bemerkte ich, dass sie sich wegen ihrer Nacktheit schämte wie Eva nach dem Sündenfall und die Beine an den Körper gezogen hatte. Ihr Kinn zitterte vor Kälte oder Furcht, während sie mich ansah. Es wäre eine glatte Lüge, würde ich behaupten, dass sie nicht entsetzt dreinschaute.
Aber so werden wir nun einmal geboren: nackt und verängstigt.
„Alles Gute zum Geburtstag, Dolly“, sagte ich.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
DRITTER FRÜHLING
VON MIKE CAREY
Schauen Sie, ich hab ein Problem mit Toten: Sie zerfallen.
Okay, ich gebe zu, der Übergang in den Zustand der Leichenstarre ist ein Schock für den gesamten Organismus. Man wacht eines Morgens auf und fühlt sich total mies – wie ein aufgewärmter Toter, wie es so schön heißt, oder eher wie ein Toter, der so schnell abkühlt, dass er sich schon bald der Umgebungstemperatur angepasst hat. Man tastet nach dem Puls, der nicht mehr fühlbar ist. Aber heißt das, dass es ihn tatsächlich nicht gibt oder dass man nur zu blöd ist, ihn zu finden?
Okay, einen Herzschlag spüren Sie auch nicht. Das lässt nichts Gutes ahnen, denn mittlerweile hat man eine Scheißangst, dass einem das Herz eigentlich bis zum Hals schlagen müsste und sich nicht so anfühlen dürfte, als würde es mit angezogener Handbremse am Straßenrand stehen.
Nervös keuchend holt man tief Luft … und die bleibt einfach in einem drin. Geht nirgendwohin. Der Metabolismus wandelt keinen Sauerstoff mehr um, und alle ehemals automatischen Funktionen werden nicht mehr von der Hauptplatine gesteuert. Es baut sich kein Druck auf. Man könnte die Luft eine Minute lang anhalten, eine Stunde, anderthalb Tage, ohne auch nur ein Mal den leisesten Drang zu verspüren, sie wieder herauszulassen.
Das Schild an der Tür ist nur umgedreht worden und zeigt nicht mehr Geöffnet, sondern Geschlossen an. Das war’s. Ab jetzt wäre es grammatikalisch unkorrekt, einen Satz mit „Ich bin“ anzufangen. Es ist jetzt nur noch „Ich war/war nicht“ statthaft.
Das ist jedoch mitnichten ein Grund, sich gehen zu lassen, will ich damit sagen. Zu viele Leute nehmen den Tod als Vorwand, und ich kann das nicht mehr hören. Hey, Leute, die Welt da draußen existiert noch immer. Sie ist nicht fort. Die Spielregeln haben sich nicht geändert, nur weil man abgekratzt ist, und wie sagt man so schön? Wenn man nicht sofort wieder in den Sattel steigt, gerät man in einem Haufen Pferdeäpfel liegend unter die Hufe. Es liegt an einem selber.
Ich war Börsenmakler, und wahrscheinlich ist es das, was mich umgebracht hat. Vielleicht hat mich aber auch eher die Tatsache, dass ich ein hervorragender Börsenmakler war, umgebracht, weil ich diese besondere Besessenheit besaß, die mich bis an die Spitze der NASDAQ brachte, während andere in meinem Alter sich noch die Zähne mit Zahnseide säuberten und Krawatten aussuchten, die zu ihren handbestickten Hosenträgern passten.
Es ist ein harter Job, verstehen Sie mich nicht falsch. Wenn man DAX-notierte Rennpferde gegen Windhunde ausspielt, gleichzeitig Feinabstimmungen im Verkauf und Kauf vornimmt und so knappe Termingeschäfte abschließt, dass es richtig eng wird, ist das ein wenig wie eine Fahrt in einer Wildwasserbahn. Hunderte Millionen Euro fließen unter einem und hinter einem, und man weiß ganz genau, dass man untergeht und nie wieder das Tageslicht erblicken wird, wenn man den Halt verliert und versucht, den Strom aufzuhalten, bevor das Geschäft reif ist.
Ja, es gibt einen gewissen Stresspegel, mit dem man lebt. Ich sage bewusst nicht, „mit dem es einem gut geht“, denn das ist Macho-Gewäsch: Der Adrenalinschub ist höchstens eine halbe Stunde lang angenehm. Danach zittert man nur noch unkontrolliert und muss ein paar Tabletten gegen Sodbrennen einwerfen. Ein Tag im Geschäftsraum für Devisengeschäfte ist wie ein Tag im Schlachthaus: Man watet durch das Blut anderer Leute, wenn man alles richtig gemacht
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