The New Dead: Die Zombie-Anthologie
zerrte sie verzweifelt am Knauf, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Madame und Monsieur liefen hinter ihr her, wobei ihre Absätze in einem hektischen Rhythmus hart auf das Parkett einhämmerten.
Delice rannte in eines der Gästeschlafzimmer. Am anderen Ende des Raumes befand sich ein Fenster, das auf das Dach des ersten Stocks hinausging. Irgendwie werde ich es schon schaffen, auf das Dach und von dort hinunterzuklettern , dachte sie. Sie riss die Fensterläden auf und krabbelte auf das Dach hinaus. Dort duckte sie sich tief in den Schatten. Ihr Herz pochte wild.
„Gib sie mir, Denis, du Dummkopf“, hörte sie Madame sagen. Dann war deutlich das Rascheln von Madames seidenen Röcken zu hören, das wie das Zischen einer Schlange klang. Die beiden kletterten auf das Dach hinaus.
Delice versuchte, sich ganz klein zu machen und Zentimeter für Zentimeter auf den nassen, rutschigen Dachziegeln weiterzukrabbeln, ohne gesehen zu werden. Doch Madame hatte scharfe Augen, deren Blick die Dunkelheit wie der Lichtstrahl einer Laterne durchschnitten.
„Delice!“
Delice schaute auf, weil sie das immer so getan hatte.
Die Wolken rissen auf, und das Mondlicht fiel auf Madame. Sie stand keine zehn Schritte von Delice entfernt auf dem Dach. Ihre dunklen Haare waren zerzaust, und ihr Gesicht wirkte gespenstisch weiß in dem silbernen Licht.
In der Hand hielt sie eine Pistole.
„Delice, komm wieder rein. Sofort!“, befahl Madame. Sie hob die Pistole und zielte auf ihr Dienstmädchen.
Delice starrte die Pistole an. Madame würde sie ganz sicher töten. Aber wieder in dieses Haus gehen … Das wäre schlimmer, als zu sterben. Plötzlich hatte Delice keine Angst mehr.
Wenn ich sterben muss, dann soll es eben so sein. Aber wie ich sterbe, entscheide ich.
Sie stand auf und rannte los. Delice hörte einen Knall, und eine Kugel zischte an ihrem Ohr vorbei. Sie fühlte einen heißen Luftzug an ihrer Wange, rannte jedoch weiter. Plötzlich flog sie. Flog …
Und dann war da nichts mehr. Nichts, bis sie hier bei Ava Ani aufwachte.
In dieser Nacht bewegten sich zwei schlanke Gestalten langsam und lautlos durch die samtschwarze Finsternis, die über der Stadt lag. Sie verschwanden in einer Allee, die hinter dem Maison DuPlessis entlangführte, und kletterten über den Zaun, der das Grundstück umgab. Ava Ani hielt inne, als zwei blaue Augen sie unter der Buchsbaumhecke hervor anstarrten.
„ Venez ici “, flüsterte sie und erwiderte den Blick. Delice beobachtete, wie Madames weiße Perserkatze unter den Büschen hervorkam und auf Ava Ani zuging. Sie näherte sich ihr zögerlich, wie ein Kinderspielzeug, an dem man behutsam zieht. Delice sah fasziniert zu. Sie hasste Henri. Unzählige Male hatte dieser übellaunige Kater sie gebissen und gekratzt.
Als Henri vor Ava Ani stand, beugte sie sich hinunter und packte ihn im Genick. Eine Klinge blitzte auf, und im nächsten Moment war Henri tot, sein Bauch aufgeschlitzt. Ava Ani stäubte feines Pulver in einem komplizierten Muster um ihn herum und stimmte leise ein Lied in einem fremden Dialekt an.
Der Gesang wurde lauter und lauter, bis Delice das Gefühl hatte, der Klang käme direkt aus ihrem Kopf. Ihre Ohren dröhnten, und ihr Körper fühlte sich nicht mehr schwer und unbeholfen an. Sie fühlte sich leicht und behände, und ein Fieber schien ihr Blut zum Kochen zu bringen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, warf den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund.
Ein kühler Wind, so leicht wie ein Zephir, kam plötzlich auf. Er umkreiste den Kater und zerzauste das blutverschmierte Fell, ohne die veves allzu sehr zu verwischen, die Ava Ani um das Opfer herum gezeichnet hatte. Leise raschelnd zog er durch Delice’ rote Seidenröcke. Plötzlich schnappte Delice’ Mund zu, und ihr Körper wurde von wilden Zuckungen erfasst. Nach einigen Sekunden erfüllte sie plötzlich eine große Ruhe, und langsam wandte sie den Kopf zu Ava Ani, die ihr Haupt ehrfurchtsvoll vor dem mächtigen djabo neigte. Delice’ sanftes, schmales Gesicht nahm eine wilde, grausame Schönheit an.
Delice sprach: „Diese Katze gefällt mir. Ich werde tun, was du wünschst. Es wird mir ein Vergnügen sein, oh ja, ganz gewiss.“ Sie lachte, ein lieblicher Klang in der Dunkelheit, und mit einem Wirbeln ihrer roten Röcke war sie verschwunden.
Ava Ani floh.
Das Rascheln von Seide war in dieser Nacht das einzige Geräusch im Maison DuPlessis. Irgendetwas wandelte wie ein Racheengel durch das große Haus.
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