The New Dead: Die Zombie-Anthologie
drehte Delice auf den Bauch. Ihr stockte der Atem, als sie Delice‘ Rücken erblickte. Delice selbst hatte ihn noch nie gesehen, doch sie wusste, dass er mit kreuz und quer verlaufenden Narben übersät war, die Madame ihr in den vierzehn Jahren ihres Lebens mit einer Peitsche zugefügt hatte. Madame war jähzornig, oh ja. Ava Ani zeichnete jede einzelne Narbe sanft mit einer Fingerspitze nach.
„Jede hat eine Geschichte zu erzählen, nicht wahr, ma pauve ? Doch diese Geschichte wird ein Happy End haben. Oh ja, Ava Ani wird dafür sorgen. Und du auch.“
Ava Ani machte sich daran, Delice’ ausgemergelten Rücken mit dem duftenden Wasser zu waschen. Wie zärtlich! Delice konnte sich nicht entsinnen, jemals so berührt worden zu sein. Nein, man hatte sie immer nur berührt, um ihr Schmerzen zuzufügen … oder Schlimmeres.
Ein sanfter Schauer lief ihr über den Rücken. Ava Ani musste ihn wohl gespürt haben.
„Gut, gut“, sprach sie leise. „Die Lebensgeister kehren zurück.“
Als Ava Ani die Reinigung beendet hatte, kämmte sie Delice’ Haare mit Rosenöl, sodass aus den glanzlosen struppigen Strähnen sanfte Wellen und Locken wurden. Dann half sie ihr, sich aufzusetzen, und zog ihr ein rotes Seidenkleid an, das ihr perfekt passte – sogar über der Brust, wo Delice allmählich weibliche Formen annahm. Delice hatte noch nie ein so elegantes Kleid besessen.
„ Ne pas ce pauve. Maintenant elle est belle! “ Ava Ani grinste Delice an, wobei sie ihre geraden weißen Zähne entblößte. „Nun fehlt noch ein Band, ein rotes Seidenband.“ Während Ava Ani nach dem Band suchte, schaute Delice sich um.
Sie befand sich in einer Hütte, die aus einem einzigen Zimmer zu bestehen schien, und saß auf einem Tisch. In der einen Ecke stand ein Bett, in der anderen ein Kamin. Alles war sauber und ordentlich, bis hin zu den mysteriösen Flaschen und Schachteln auf einem Regal über dem Bett. Von diesem Regal hing ein Tuch herab, das mit einem verschlungenen bunten Muster bestickt war. Ein veve .
Delice wurde klar, dass sie im Haus einer mambo war, einer Voodoo -Priesterin. Doch wie war sie hierhergekommen? Letzte Nacht war sie zu Hause gewesen, im Maison DuPlessis. Irgendetwas war geschehen. Etwas Schlimmes. War es überhaupt letzte Nacht gewesen? Irgendwie schien es ihr länger her zu sein.
Plötzlich fiel es ihr schwer, sich zu erinnern, zu denken. Madame hatte sie immer als dumm bezeichnet. Jeannette sagte stets, dass Madame dumm sein müsse, so etwas zu denken, aber vielleicht hatte Madame ja Recht. In diesem Augenblick hatte Delice das Gefühl, ihr Kopf wäre mit nasser Baumwolle gefüllt.
Ava Ani war zurück und fasste Delice’ Locken mit einem Band zusammen. „ Non, non, non! “, rief sie. „Madame, sie ist die Dumme. Das weiß ich, und schon bald werden wir es auch Erzulie erzählen. Erzulie ist eine mächtige djabo , die uns helfen wird. Madame wird lernen, und Monsieur auch. Du musst nicht so überrascht gucken, ma petite . Oui , Ava Ani weiß alles.“ Sie half Delice vom Tisch herunter und setzte sie in einen Sessel in der Ecke.
„Nun, petite fille , bleibst du hier sitzen und ruhst dich aus. Warte, bis es Abend ist.“
Delice tat, wie ihr geheißen, und schloss die Augen. Sie lauschte den Geräuschen aus dem Vieux Carré, die wieder auflebten, als der Regenaufhörte und die Wolken einer feurig roten Abenddämmerung Platz machten. Der süßliche Duft der Bougainvillea hing schwer in der Luft.
Vor dem Maison DuPlessis hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ava Ani mischte sich unter sie, belauschte die Gespräche der Menschen und wartete darauf, dass sich Monsieur oder Madame zeigten. Das Haus lag still da, und die Fensterläden waren wie aus Scham verschlossen.
Scham, vraiment , dachte Ava Ani. Sie kannte die Geschichte, vielleicht sogar besser als jeder andere in New Orleans. Die DuPlessis waren eine in der Gesellschaft bedeutende Familie, reich und nobel. Doch die Nachbarn erzählten hinter vorgehaltener Hand von seltsamen Geräuschen, die spät in der Nacht aus dem Haus drangen … Schreie und unmenschliche Klagelaute, wie von Tieren, die Schmerzen litten. Schließlich war die Neugier der Nachbarn befriedigt worden.
Letzte Woche hatte Delphine DuPlessis ihr Dienstmädchen durch das ganze Haus gejagt, bis das verängstigte Sklavenmädchen auf das Dach geklettert war, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch Madame DuPlessis war ihr dorthin gefolgt, und das Mädchen war in den Tod
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