The Weepers - Wenn die Nacht Augen hat: Band 2 - Roman (German Edition)
wenige hundert Meilen von hier ein ganz normales Leben führten; ein Leben, in dem die Angst und der Tod nicht allgegenwärtig waren. Der Rest des Landes wusste nicht einmal von uns. Wenn sich Dad wirklich mit der Tollwut infiziert hatte, konnte ihm hier keiner helfen. Hoffnung gab es nur jenseits des Zauns.
Nach Sonnenaufgang verließen Joshua und ich das Dach und machten Frühstück in der Küche. Der Duft von Keksen und Kaffee (unser letztes Päckchen) erfüllte das Haus und lockte die Bewohner von Safe-haven aus ihren Betten. Schon bald hatten sich die meisten von uns um den großen Holztisch versammelt, der so sperrig war, dass wir ihn unmöglich mitnehmen konnten. Ich würde die gemeinsamen Mahlzeiten dieser eigenartigen, zusammen gewürfelten Familie vermissen.
Mia hielt Bobbys Hand. Sobald sie mich sah, kam sie auf mich zugestürmt und schlang die Arme fest um mich. Ich fuhr mit den Fingern durch ihre roten Locken und lächelte Bobby an. Er hatte sich in den letzten Tagen rüh rend um unsere kleine Schwester gekümmert und versucht, so gut wie möglich für unseren kranken Vater einzusprin gen. Jedes Mal, wenn ich Bobby sah, schien er wieder ein Stück gewachsen zu sein. Er war jetzt größer als ich, obwohl er zwei Jahre jünger war. Bobby nickte mir zu und ließ sich in einen Stuhl fallen.
»Fertig!«, rief Marie und nahm das Blech mit den Keksen aus dem Ofen. Dabei hing ihre Tochter Emma wie ein Klammeraffe an ihrem linken Bein.
Ich reichte Karen die Kaffeekanne. Sie schenkte erst ihrem Mann ein, bevor sie sich selbst eingoss. Larry rieb sich gedankenverloren das steife Bein. Offensichtlich be reitete es ihm von Zeit zu Zeit Schmerzen. Als er meinen Blick bemerkte, hielt er inne und rückte sich mit einem verschämten Lächeln die Brille zurecht. Ich wusste nicht so recht, wieso ihm das peinlich sein sollte – sein lahmes Bein war der Beweis dafür, dass er überlebt hatte. Darauf konnte er stolz sein. Nur wenigen Menschen gelang es, bei einem Weeper-Angriff mit dem Leben davon zukommen.
Rachel und Tyler saßen Seite an Seite. Seit Rachel hier angekommen war, waren die beiden unzertrennlich. Joshua hatte sie aus demselben Nest gerettet, in dem wir auch Dad gefunden hatten. Mom und Dad waren die letz ten, die zu uns stießen. Zu meiner großen Erleichterung bemerkte ich, dass Dad zwar noch blass war und sich auf Mom stützen musste, aber nicht mehr schwitzte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er sich langsam auf einem Stuhl niederließ. Man konnte die Gedanken der Anwesenden fast hören: »Können wir heute endlich fahren?«
Natürlich war es ihr gutes Recht, sich Sorgen zu machen, aber trotzdem gefielen mir die misstrauischen Blicke, die sie Dad zuwarfen, überhaupt nicht.
Larry klopfte Dad auf die Schulter. »Du siehst gut aus.«
Dad lachte heiser. »Dann brauchst du wohl eine neue Brille.« Alle lachten, und die angespannte Atmosphäre lockerte sich etwas auf.
Joshua drückte mein Bein. Ich lehnte mich zurück und entspannte mich.
Wir knabberten die Kekse, die Marie gebacken hatte. Ich würgte sogar ein paar Schlucke Kaffee hinunter. Den Geschmack fand ich noch immer widerlich, aber heute brauchte ich das Koffein.
»Also werden wir morgen von hier verschwinden?«, platzte Bobby heraus.
Am liebsten hätte ich ihm dafür einen Tritt verpasst. Dad stierte auf seinen Teller.
Karen erstarrte, die Kaffeetasse nur wenige Zentimeter von ihrem Mund entfernt. Langsam stellte sie sie wieder ab. »Schon möglich. Das können wir erst heute Abend mit Sicherheit sagen. Wenn sich sein Zustand nicht verschlimmert, sehe ich keinen Grund, weshalb wir morgen früh nicht losfahren könnten.«
Ich versuchte, die Hoffnung, die in mir aufstieg, zu rückzudrängen. Wir mussten noch einen ganzen Tag hinter uns bringen. Erleichterung und Freude konnte ich mir erst erlauben, wenn Dad im Auto saß und mit uns Safe- haven verließ. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, würde ich das nicht verkraften.
Nach dem Frühstück spülte ich freiwillig ab. Ich brauchte eine Beschäftigung, obwohl mir vor Müdigkeit jeder Muskel schmerzte. Dann hörte ich das Klopfen von Dads Geh stock hinter mir. Er lehnte sich gegen die Küchenzeile. »Brauchst du Hilfe?«
Ich wollte schon verneinen, da bemerkte ich den fle hentlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Es musste schwer für ihn sein, sich so hilflos zu fühlen – wahrscheinlich hielt er sich eher für nutzlos . Sein ganzes Leben lang hatte er hart gearbeitet, und
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