Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
entsetzlich gewesen, aus der Ferne zusehen zu müssen, wie die Polizei ihre Leiche aus dem Wasser des Yancey fischte. Der Körper war zwar nicht zu erkennen gewesen, aber wenn Polizei und Taucher hektisch daran arbeiteten, etwas aus dem Fluss zu holen, konnte es sich nur um eine Leiche handeln. Um einen toten Menschen. Warum sonst hätte die Polizei dort sein sollen, warum sonst diese Aktion? In der letzten Woche war außer April niemand in Strattenburg verschwunden, noch nicht einmal im letzten Jahr. Auf der Liste stand ein einziger Name, und Theo war fest davon überzeugt, dass April tot war. Von Jack Leeper entführt, ermordet und ins Wasser geworfen.
Theo konnte es gar nicht erwarten, dass Leeper vor Gericht gestellt wurde. Hoffentlich musste er sich bald in dem nur wenige hundert Meter entfernten Gerichtsgebäude für seine Taten verantworten. Theo würde sich keine Minute entgehen lassen, selbst wenn er dafür die Schule schwänzen musste. Vielleicht würde er als Zeuge aussagen müssen. Er wusste noch nicht recht, wie er sich im Zeugenstand äußern würde, aber er würde alles tun, damit Leeper überführt, verurteilt und für den Rest seines Lebens ins Gefängnis gesteckt wurde. Es würde ein großartiger Augenblick werden, wenn Theo als Zeuge aufgerufen wurde, den überfüllten Sitzungssaal betrat, seine Hand auf die Bibel legte und schwor, die Wahrheit zu sagen. Dann würde er seinen Platz im Zeugenstand einnehmen, Richter Henry Gantry zulächeln, zuversichtlich in die neugierigen Gesichter der Geschworenen sehen, den Blick über die zahlreichen Zuschauer schweifen lassen und ihn dann furchtlos und unerbittlich vor aller Augen auf Jack Leepers hässliche Visage richten. Je länger sich Theo die Szene ausmalte, desto besser gefiel sie ihm. Höchstwahrscheinlich war Theo der letzte Mensch, mit dem April vor ihrer Entführung gesprochen hatte. Er konnte bezeugen, dass sie verängstigt und– für die meisten wohl eine Überraschung– allein gewesen war.
Die Kernfrage würde sein, wie der Angreifer ins Haus gekommen war. Vielleicht wusste nur Theo, dass April alle Türen und Fenster verriegelt und sogar Stühle unter die Klinken geschoben hatte– solche Angst hatte sie gehabt. Da es keine Anzeichen eines Einbruchs gab, musste sie ihren Entführer gekannt haben. Sie kannte Jack Leeper. Irgendwie hatte er sie wohl überredet, ihm aufzumachen.
Wenn er an sein letztes Gespräch mit April dachte, hatte er eigentlich keinen Zweifel mehr, dass ihn die Staatsanwaltschaft als Zeugen aufrufen würde. Ein paar Augenblicke lang sah er sich selbst im Gerichtssaal, dann war das Bild plötzlich verschwunden. Das Ausmaß der Tragödie traf ihn erneut mit voller Wucht, und er merkte, wie seine Augen wieder feucht wurden. Seine Kehle war wie zugeschnürt und er hatte Bauchschmerzen. Er brauchte menschliche Gesellschaft. Aber Elsa war schon nach Hause gegangen, genau wie Dorothy und Vince. Seine Mutter hatte eine Mandantin bei sich, die Bürotür war geschlossen. Sein Vater wälzte oben Papiere und versuchte, ein großes Geschäft abzuschließen. Theo stand auf, stieg über Judge hinweg und studierte die Zeichnung, die April ihm geschenkt hatte. Wieder streichelte er ihren Namen.
Kennengelernt hatten sie sich im Kindergarten, wobei Theo nicht mehr genau wusste, wo und wann das gewesen war. Vierjährige stellen sich nicht offiziell vor. Sie lernen sich einfach kennen. April war in seiner Gruppe bei Mrs. Sansing. In der ersten und zweiten Klasse waren sie getrennt und sahen sich kaum. Als sie in die dritte Klasse kamen, waren sie beide in dem Alter, in dem Jungen und Mädchen nichts miteinander zu tun haben wollen. Theo erinnerte sich vage, dass April ein Jahr oder so woanders gewohnt hatte. Er vergaß sie, wie die meisten Kinder in seiner Klasse. Aber er erinnerte sich an den Tag, an dem sie wiederkam. Es war die zweite Schulwoche, und die sechste Klasse hatte gerade bei Mr. Hancock Unterricht, als die Tür aufging und April hereinkam. Sie wurde von der Konrektorin begleitet, die sie vorstellte und erklärte, die Familie sei kürzlich nach Strattenburg zurückgezogen. April schien es peinlich zu sein, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Als sie sich an den Tisch neben Theo setzte, warf sie ihm einen Blick zu, lächelte und sagte: »Hi, Theo.« Er lächelte zurück, brachte aber kein Wort heraus.
Die meisten Schüler in ihrer Klasse erinnerten sich an sie, und obwohl sie ruhig, fast schüchtern war, hatte sie keine
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