Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
radelten davon.
Die Kanzlei Boone & Boone verfügte über eine große Bibliothek, die sich im Erdgeschoss in der Nähe der Rezeption befand, wo Elsa arbeitete und alles im Auge behielt. Die Bibliothek war Theos Lieblingsraum. Er liebte die Reihen dicker, schwerer Bücher, die großen Ledersessel und den langen Mahagoni-Konferenztisch. Hier fanden alle möglichen wichtigen Gespräche statt: Zeugenaussagen, Vergleichsverhandlungen und– das galt allerdings nur für Mrs. Boone– die Vorbereitung auf die Verhandlung. In Scheidungssachen ging sie, im Gegensatz zu Mr. Boone , gelegentlich vor Gericht. Er war Immobilienanwalt und verließ nur selten sein Büro im ersten Stock. Allerdings benutzte er den Raum gelegentlich für Immobiliengeschäfte.
Theos Eltern warteten mit Elsa in der Bibliothek auf Theo. Auf dem großen Flachbildschirm liefen die Lokalnachrichten. Seine Mutter umarmte ihn, als er hereinkam, dann war Elsa an der Reihe. Er setzte sich vor den Fernseher, seine Mutter auf der einen, Elsa auf der anderen Seite. Beide tätschelten ihm die Knie, als wäre er knapp dem Tod entronnen. Die Nachrichten befassten sich ausschließlich mit der aufgefundenen Leiche. Sie war in die städtische Leichenhalle gebracht worden, wo offizielle Stellen alle möglichen wichtigen Untersuchungen vornahmen. Die Journalistin hatte keine Ahnung, was eigentlich dort vor sich ging, und als es ihr nicht gelang, einen Augenzeugen aufzutreiben, der mit ihr reden wollte, flüchtete sie sich in leeres Gerede, wie Reporter es häufig tun.
Theo hätte den anderen gern erzählt, dass er die Ereignisse am Fluss aus der Vogelperspektive beobachtet hatte, aber er wollte sich keinen Ärger einhandeln.
Die Reporterin erklärte, die Polizei werde von Beamten des kriminaltechnischen Labors des Bundesstaates unterstützt. In ein paar Stunden werde man mehr wissen.
»Das arme Mädchen«, verkündete Elsa, nicht zum ersten Mal.
»Wieso sagst du das?«, fragte Theo.
»Wie bitte?«
»Du weißt doch gar nicht, ob es ein Mädchen ist. Du weißt nicht, ob es April ist. Wir wissen gar nichts.«
Die Erwachsenen sahen einander an. Die beiden Frauen hörten gar nicht mehr auf, Theo die Knie zu tätscheln.
»Da hat Theo recht«, sagte Mr. Boone, aber nur, weil er seinen Sohn trösten wollte.
Zum hundertsten Mal wurde ein Bild von Jack Leeper gezeigt und seine Lebensgeschichte durchgekaut. Als klar wurde, dass es im Augenblick nichts Neues zu berichten gab, wurde die Sache uninteressant. Mr. Boone verschwand unauffällig. Auf Mrs. Boone wartete im Foyer eine Mandantin. Elsa musste ans Telefon.
Schließlich zog sich Theo in sein Büro hinten im Gebäude zurück. Judge kam mit, und Theo kraulte ihm lange den Kopf und redete mit ihm. Danach fühlten sich beide besser. Theo legte die Füße auf den Schreibtisch und sah sich in seinem kleinen Büro um. Er konzentrierte sich auf die Wand mit seiner Lieblingszeichnung, die ihn immer wieder zum Lächeln brachte. Es handelte sich um eine gelungene Bleistiftskizze, die den aufstrebenden Rechtsanwalt Theodore Boone mit Anzug und Krawatte im Gerichtssaal zeigte. Ein Richterhammer flog haarscharf an seinem Kopf vorbei, und die Geschworenen brüllten vor Lachen. »Abgewiesen!« stand unter der Zeichnung. Rechts unten hatte die Künstlerin signiert: April Finnemore. Sie hatte Theo die Zeichnung zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.
War ihre Karriere vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hatte? War April tot– eine liebenswerte Dreizehnjährige entführt und brutal ermordet, weil sich keiner um sie gekümmert hatte? Theo zitterten die Hände, sein Mund war wie ausgetrocknet. Er schloss die Tür, sperrte ab, ging zu der Zeichnung und strich vorsichtig mit dem Finger über Aprils Namen. Seine Augen wurden feucht, und schließlich liefen ihm die Tränen über die Wangen. Er ließ sich auf den Boden sinken und weinte lange. Judge legte sich neben ihn und sah ihn aus traurigen Augen an.
Neun•
Eine Stunde verging, und es wurde dunkel. Theo saß an seinem kleinen Schreibtisch, einem Kartentisch, auf dem sich das Handwerkszeug eines Rechtsanwalts befand: Tagesplaner, eine kleine Digitaluhr, ein nachgemachter Füllersatz, ein Namensschild aus Holz, in das sein Name eingraviert war. Vor ihm lag ein offenes Algebrabuch. Er starrte es lange an, unfähig, den Text zu lesen oder die Seiten umzublättern. Sein Heft hatte er ebenfalls aufgeschlagen, aber das Papier blieb leer.
Er konnte nur noch an April denken. Es war
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