Theo Boone - Unter Verdacht: Band 3 (Heyne fliegt) (German Edition)
während sie sich durch die Mathebücher arbeiteten. Die Mutter hatte sich zu ihnen gesetzt und hörte aufmerksam zu. Wahrscheinlich wollte sie ebenfalls Mathe lernen. Theo wusste zumindest, dass sie nicht gut lesen konnte.
Jeder Besuch in der Obdachlosenunterkunft erinnerte Theo daran, wie glücklich er sich schätzen konnte. Keinen Kilometer von seinem warmen, gemütlichen Zuhause entfernt gab es Menschen wie die Kobacks, die auf Feldbetten schlafen und sich mit dem von Kirche und Wohltätigkeitsorganisationen gespendeten Essen zufriedengeben mussten.
Theos Zukunft war vorhersehbar. Wenn alles nach Plan lief, würde er die Highschool abschließen, auf die Uni gehen (auf welche, hatte er noch nicht entschieden) und Jura studieren. Dagegen hatten die Koback-Jungen keine Ahnung, wo sie in einem Jahr sein würden. Der Aufenthalt in der Highland Street war auf zwölf Monate begrenzt. In diesem Zeitraum mussten die Bewohner Arbeit und eine dauerhafte Bleibe finden. Daher waren die Kobacks wie alle anderen sozusagen nur auf der Durchreise.
Um neun Uhr gingen die Freiwilligen. Theo verabschiedete sich von Ben, Russ und ihrer Mutter. Als er aus dem Untergeschoss kam, war von seinen Eltern immer noch nichts zu sehen. Er beschloss, zur Kanzlei zu fahren, um Hund und Rucksack zu holen– und hoffentlich alle wohlauf vorzufinden. Da um diese Zeit kaum noch Autos fuhren, nahm Theo es mit den Verkehrsregeln nicht so genau, flitzte über Gehwege und ignorierte Stoppschilder. Zwei voll aufgepumpte Reifen waren schon eine feine Sache.
An der Ecke Main und Farley Street warteten zwei Autos vor Theo an einer roten Ampel. Er fuhr auf den Gehweg und rutschte mit einem riskanten Wendemanöver in die Main Street. Leider stieß er dabei mit dem Rad eines uniformierten Polizisten zusammen. Stu Peckinpaw war ein drahtiger, im Dienst ergrauter Beamter, der seit Jahrzehnten in Strattenburg Streife ging. Alle Kinder kannten ihn und versuchten, ihm aus dem Weg zu gehen.
Theo war nichts passiert. Er sprang auf, klopfte sich den Staub von den Beinen und stammelte eine Entschuldigung, wobei er halb damit rechnete, festgenommen und zur Polizeistation geschleift zu werden.
Peckinpaw lehnte sein Rad gegen einen Pfosten und nahm seinen Helm ab.
» Wie heißt du?«, fragte er, als hätte sich Theo ein schweres Vergehen zuschulden kommen lassen.
» Theo Boone.« Beide waren sich im Laufe der Jahre mehrmals begegnet, aber das war ihre erste unmittelbare Konfrontation.
» Der Name kommt mir bekannt vor.«
Darauf hatte Theo nur gewartet.
» Meine Eltern sind Woods Boone und Marcella Boone von der Kanzlei Boone & Boone.«
» Sind mir bekannt. Wenn deine Eltern Anwälte sind, müsstest du eigentlich die Vorschriften kennen.«
» Im Prinzip schon.«
» Die Stadtverordnung verbietet das Fahren auf dem Bürgersteig zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Weißt du das nicht?«
» Doch.«
Peckinpaw starrte Theo finster an. Zückte er jetzt gleich die Handschellen und nahm ihn fest? » Ist dir was passiert?«
» Nein.«
» Dann ab nach Hause mit dir, und bleib auf der Straße.«
» Darauf können Sie sich verlassen. Danke!«
Stu Peckinpaw war bekannt dafür, dass er bei aller Grimmigkeit vor allem jugendlichen Radfahrern kaum jemals einen Strafzettel verpasste. Er brüllte gern herum und stieß finstere Drohungen aus, aber er scheute den Papierkram. Höchst erleichtert fuhr Theo davon. Trotzdem fragte er sich, was an diesem ereignisreichen Tag noch passieren mochte. Sein Handy klingelte, und er hielt an, um das Gespräch anzunehmen. Es war seine Mutter. Er sollte direkt nach Hause kommen. Das Gespräch mit den Treens war endlich zu Ende, und es war ein Erfolg gewesen.
Als er in die Küche kam, aßen seine Eltern Tiefkühlpizza. Sie waren völlig erschöpft und erkundigten sich zwar nach der Obdachlosenunterkunft, konnten aber vor Müdigkeit kaum reden. Theo wollte wissen, wie es in der Kanzlei und mit den Treens weitergegangen war, aber da war das Anwaltsgeheimnis vor, das jedes Gespräch im Keim erstickte. Seine Eltern sprachen nie über ihre Mandanten. Niemals. Die Angelegenheiten ihrer Mandanten und Anwaltsgespräche waren tabu. Mrs. Boone sagte nur, sie hätten sich geeinigt, und die Treens würden zur Eheberatung gehen.
Theo hatte jede Menge zu besprechen. Zwei aufgeschlitzte Reifen, ein durchwühlter Spind und ein eingeworfenes Bürofenster. Jemand hatte es auf ihn abgesehen, darüber musste er mit seinen Eltern
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