Theo
immer.
Dann gibt man der Situation aber noch eine dritte Chance auf Veränderung und schaut neuerlich hin, diesmal wirklich lange und konzentriert, etwa so, wie man ein Gemälde betrachtet, mit Andacht und Ruhe und dem Bemühen, mehr zu erkennen, als dahintersteckt.
Plötzlich hält man verwundert inne und beginnt zu grübeln: Irgendetwas war doch da, irgendetwas ist nicht mehr so wie früher. Man schaut ein viertes Mal hin, diesmal gezielt, schon mit dringendem Verdacht, und mit dem Ehrgeiz, die Sache aufzuklären. Tatsächlich: Theos rechter Fuß steht nicht mehr dort, wo er noch vor einer Minute gestanden hat. Nun weiß man es. Theo ist gegangen. Und man ahnt, auch wenn es mit freiem Auge nicht erkennbar ist: Er geht noch immer.
Theo hat beim Gehen zwei gröbere Probleme – sein rechter und sein linker Arm. Er weiß mit ihnen nichts anzufangen. Sie sind ihm richtiggehend im Weg. Wären sie doppelt so lang, könnte er wenigstens drüberspringen oder -stolpern und hängen bleiben. Dann würde er auf der Stelle liegen bleiben, ein Betreuer müsste ihn mit dem Kinderwagen abholen – und der Spaziergang wäre beendet.
So aber machen die Arme irgendetwas, das niemandem nützt und Theo eher schadet. Das heißt: Er kommt von der Ideallinie ab. Der eine Arm zieht mitunter so heftige Kreise, dass es Theo spiralenförmig auszuheben droht, während der andere ungestüm zur Seite schlägt, als gelte es, einen Konkurrenten auf gleicher Höhe am Überholvorgang zu hindern beziehungsweise ihn aus dem Rennen zu boxen. Nur eine bestimmte Bewegung kennen beide Arme Theos nicht – das den Schritt begleitende, rhythmische Nach-vorne- und Nach-hinten-Schwingen.
Theo hat beim Gehen neben den gröberen Arm- auch noch leichtere Beinprobleme. Nein, er hat weder X- noch O-Beine. Sondern beides – gleichzeitig. Oder besser gesagt: Er verwendet variable Mischformen, wobei meistens ein Bein gerade geht (was dann auf sogenannte D- und K-Beine hinausläuft).
Theos Variantenreichtum in der Fortbewegung würde ihn selbst nicht weiter stören oder gar behindern. Leider liegt die Entscheidung, welche Form von Schritt gerade anfällt, nicht in seinem Ermessen. So kann er auch nicht punktgenau sagen, wohin ihn seine Beine gerade im Begriffe sind zu führen. Bürgerlisten zur Verbreiterung von Gehsteigen würde er jedenfalls sofort unterschreiben (könnte er schon schreiben und müsste er den Ort der Unterschrift nicht zu Fuß erreichen).
Theo hat beim Gehen neben den gröberen Arm- und den leichteren Bein- auch noch kleinere Fußprobleme. Nein, er hat weder Spreiz- noch Senkfüße (sondern es wirkt so, als trainierte er beides – gleichzeitig). Würde Theo den Füßen freien Lauf lassen, käme er mit den Beinen nach etwa fünf Schritten über Kreuz. Denn seine Füße haben die Angewohnheit, nach innen, also aufeinander zuzugehen. Wenn er sie scharf beobachtet und auf frischer Tat ertappt, gelingt es ihm freilich mühelos gegenzusteuern.
Das würde er allerdings niemals mit beiden Füßen gleichzeitig tun, sonst gingen sie ja auseinander, und Theo fände sich nach wenigen Schritten in einer hoffnungslosenGrätsch-Stellung. Ein Fuß darf also weiterhin nach innen gehen, der andere begleitet ihn parallel. Nach einigen Schritten wird gewechselt. Erwachsene nennen das Ergebnis »Schlangenlinien« oder »Zickzackkurs«. – Vielleicht sollte er auf Bürgerlisten zur Verbreiterung von Gehsteigen erst gar nicht warten. Er sollte gleich selbst eine diesbezügliche Bürgerinitiative gründen.
Wenn Theo geht – und das ist angesichts der Umstände eine kleine Überraschung –, dann ist er fast immer gut aufgelegt. Seine Begleiter haben ja ausreichend Gelegenheit, ihn beim Gehen zu beobachten; sie müssen nur stehen bleiben, sich umdrehen und warten, bis er irgendwo am Horizont auftaucht. Manchmal trägt sein strahlendes Gesicht geradezu schelmische Züge. Fast scheint es, als würde sich Theo über seine eigene Gangart amüsieren.
Besonders gern hat er es, wenn man ihm beim Gehen zusieht. Je ungeduldiger man dies tut, desto eher neigt er dazu, seine Fortbewegung zu zelebrieren. Je mehr man ihm das Gefühl gibt, man wartet auf ihn, desto langsamer wird er. Je mehr Personen bereits auf ihn warten, desto professioneller drosselt er das Tempo, desto bemühter hält er an seiner Art fest, beinahe nicht zu gehen, desto bewusster setzt er einen Halbschritt neben den anderen.
Und wenn sie dann schon in die Hocke gehen, wenn sie wie aufgeregte Frösche
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