Theo
ihnen daheim zeitgleich die Vorräte ausgegangen. Immerhin bringen sie Theo kleine Gastgeschenke mit: Die einen überreichen ihm Bilderbücher oder kleine Autos, andere (Knausrige, Ewiggestrige) beglücken ihn mit Katzenzungen.
Jeder Vertraute bringt aber auch seine Eigenheiten mit. Manche begrüßen Theo stürmisch und küssen ihn feucht und heftig (vor ihnen ist er stetig auf der Flucht). Manche spucken beim Reden. Manche schmatzen beim Essen. Andere … ach, was soll’s, sind ja auch nur Menschen.
Je mehr vertraute Personen anwesend sind, umso besser für Theo. Es gilt nur, die unangenehmen ersten Phasen zu überstehen, wenn sie sich alle gleichzeitig auf ihn stürzen und ihn mit hundert Fragen durchlöchern, die allesamt auf ein und dieselbe Antwort hinauslaufen, die sie sich wohl auch denken hätten können: Ja, danke, »unserem Theo« geht es prächtig. Würde es ihm schlecht gehen, hätten sie es ohnedies längst bemerkt. Dann würde es ihnen nämlich auch nicht mehr gut gehen.
Spätestens wenn sie zu essen beginnen, ist der erste Ansturm auf ihn überstanden. Wenn es ums Schnitzel geht, sind sie sich ohnehin wieder selbst die Nächsten. Dann kann Theo endlich ungestört die Initiative ergreifen. Als kleine Auflockerungsübung verschwindet er gern unter dem Tisch und öffnet Schuhbänder.Ob daraus schon ein Spiel wird, stellt sich erst anhand der Reaktionen der Schuhbandbesitzer heraus. Erfahrungsgemäß sind ältere Personen an Spielen dieser Art eher uninteressiert, besonders alte bemerken es auch gar nicht. Schade, denn ihre Schuhbänder lassen sich am leichtesten öffnen und oft sogar komplett herausziehen.
Danach verlagert sich das Spielgeschehen auf die Ebene oberhalb der Tischplatte. Theo nimmt dort einen auserwählten Schoßplatz ein, von dem aus er einen guten Überblick über die gesamte Runde genießt und rasch erkennt, über welche Schlüsselfiguren sich eventuell eine anregende Gruppenaktivität entwickeln lässt.
Manchmal reden die Leute derart hartnäckig an ihm vorbei über irgendwelche Belanglosigkeiten, dass sich Theo mit der Gesellschaft des Schoßplatz-Besitzers zufriedengeben muss. Aber er braucht ja nicht ewig dortzubleiben. Wenn der Spaß nachlässt, wird der Nachbar bestiegen, danach dessen Nachbar und so weiter. Wenn Theo wieder beim Ersten angelangt ist, holt er ein Bilderbuch oder sonst einen Gegenstand der Animation und geht die Runde noch einmal durch. Diejenigen, die es beim ersten Mal nicht gebracht haben, werden diesmal beinhart ausgelassen. Für Langweiler ist Theo die Zeit zu schade.
Die dritte Kategorie von Menschen, die nicht mehr allzu Verwandten und nur mäßig Bekannten, findet Theo zunächst einmal interessant. Sie sind stets für Überraschungen gut. Überraschungen der guten, aberauch – das ist ihr Unsicherheitsfaktor – der weniger guten Art. Wir nehmen uns jetzt eine Testfigur, nennen sie Onkel Z. und zeigen anhand dieser, wie man sich als mäßig Bekannter Theo gegenüber so verhält, dass dieser traumatische Erfahrungen davonträgt und ihn sein Leben lang nicht vergisst.
Onkel Z. besucht Theos Familie in der Josef-Ressel-Straße. Er sieht Theo im Garten spielen. Er nähert sich ihm von hinten, gelangt unbemerkt an ihn heran, packt ihn an den Hüften, schreit ihm »Hallo, Theo, mein Freund und Zwetschkenröster!« ins Ohr und hebt ihn zu sich hoch, sodass Theo aus einer Entfernung von zehn Zentimetern in sein Antlitz blickt.
Um den Effekt zu steigern, reißt Onkel Z. die Augen weit auf und verkündet: »Uuuuu, ich bin ein Geist!« Oder er lässt den Oberkiefer hervortreten, schiebt dabei die Oberlippe zurück, sodass die (gelben) Vorderzähne sichtbar werden. Dazu vermeldet er: »Ich bin Graf Dracula« – und bohrt sich Theo sogleich in den Hals.
Danach schwingt er Theo in die Lüfte, dreht mit ihm ein paar Runden Hubschrauber, stellt ihn auf den Boden, klopft ihm noch einmal amikal auf den Hintern, fragt: »Na, mein Kleiner, geht’s dir gut?« Eine Stunde später weint Theo noch immer bitterlich.
Oder: Onkel Z. betritt das Haus. Theo beobachtet den Neuankömmling aus einigen Metern Entfernung und ballt instinktiv die Fäuste, um seine darin befindlichen Spielzeugautos in Sicherheit zu bringen. Für Onkel Z.ist dies das Kommando, mit schnellem Schritt auf Theo zuzugehen. Theo lässt vor Schreck die Autos fallen. Onkel Z. fragt: »Na, was haben wir denn da?« und greift gierig nach den Fahrzeugen, zieht mit ihnen unter ekelig hochtourigen
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