Theo
Theo: »Na hallo, hallo, hallo!« Tante Lisi: »Theo, wie geht es dir?« Variante eins: Theo legt auf. Variante zwei: Theo: »Tante Lisi?« Tante Lisi: »Ja, Theo?«
An dieser Stelle gibt es gut ein Dutzend Varianten. Wir wählen die elfte. Theo: »Tante Lisi?« Tante Lisi: »Ja, Theo, ich bin ja da.« Theo: »Tante Lisi?« Tante Lisi: »Theo, komm zur Sache!« – Pause, Rauschen, Atmen, Schnaufen. Theo: »Tante Lisi?« Tante Lisi: »Ja, Theo, bitte die Pointe!« Theo: »Hör zu, Tante Lisi! – Jakob hat kein Brot im Haus, Jakob kennt sich gar nicht aus, Jakob hin, Jakob her, Jakob ist ein Zottelbär.«
Theo bewegt sich (doch)
Theo sitzt gern. Theo liegt gern. Und Theo kugelt gern herum. Damit ist über seine Bewegungsabläufe eigentlich schon alles gesagt. Wollen wir es nicht dabei belassen?
Einmal ehrlich: Die Menschen, die den Kinderwagen erfunden haben, werden sich ja wohl etwas dabei gedacht haben. (Wenngleich die Entwicklung auf einer eher primitiven Stufe stehengeblieben ist; diese Gefährte haben ja nicht einmal ein Lenkrad, geschweige denn ein Gaspedal, als Nächstes sparen sie womöglich bei den Rädern.)
Holen wir noch weiter aus: Die verwandten und bekannten Pädagogen werden seit geraumer Zeit nicht müde, Theo die Welt zu erklären. Daheim halten sie sich mittlerweile ein bisschen zurück, da sind ihnen offenbar die herzeigbaren Gegenstände ausgegangen. Aber kaum tritt man ins Freie, geht es schon los: »Theo, das ist ein … und Theo, das ist ein … und Theo, das ist ein …« Links, rechts, oben, unten, und oftmals auch irgendwo dazwischen.
Sicher, sie meinen es im Prinzip gut. Sie wollen ihn jetzt, da er noch nicht in der Lage ist, sich dagegen zu wehren, mit Wissen vollstopfen. Denn wenn er selbst einmal wählen kann, ob er etwas erlernen will oder nicht, entscheidet er sich wahrscheinlich in mindestens achtzig von hundert Fällen fürs Zweite.
Derzeit speichert Theo Eindrücke automatisch, manchmal völlig unbeeindruckt, nur aus purer Lust am Speichern selbst. Die Umgebung füttert ihn mit Informationen, und er behält sie, weil es ihm gar so leichtfällt, egal, ob sie ihn interessieren oder nicht. Theo ist allerdings kein Übermensch (zumindest fehlen dafür stichhaltige Beweise): Wenn sein Geist arbeitet, muss sein Körper ruhen. Wenn die Dinge in Form ihrer Bezeichnungen von allen Seiten auf ihn einprasseln, braucht er dringend Rückhalt, Ruhe und Sicherheit. Mit einem Wort: Er braucht einen Kinderwagen. Ohne ihn liefe er Gefahr, sein natürliches Gleichgewicht zu verlieren und sich in den Reizen der Außenwelt zu vertaumeln.
Im übertragenen Sinn kann Theo durchaus als Steher bezeichnet werden. (Siehe Mixer.) Nur stehen sollte er dabei besser nicht. Diese Körperhaltung liegt ihm einfach nicht. Sie kommt bei ihm über das Stadium des Balanceaktes nicht hinaus. Theos Betreuer kennen eigentlich nur eine einzige Situation, in der Theo absolut still und fest stehen kann. Da wirken seine Beine wie Klötze, seine Füße scheinen in den Boden einzementiert, der Oberkörper ragt starr nach vorne, die Arme hängen, wie festgenagelt, in der Luft. Theos Haupt scheint einem Marmorrelief von Michelangelo nachgemeißelt. Und sein Gesicht signalisiert volle Konzentration, als würde er tief in sich hineinhorchen. So steht er nun absolut trittsicher da, bis ihn die argwöhnische Stimme eines Pädagogen aus der selbstauferlegtenVerankerung reißt und die entlarvende Frage stellt: »Theo, machst du gerade in die Hose?«
Sonst kann er auf Stehen im Allgemeinen gerne verzichten. Mit Gehen verhält es sich ähnlich. Aber Gehen geht gerade noch. Erstens verändert sich die Landschaft, und zweitens ist Gehen doch eine deutlich stabilere Angelegenheit. Wenn man umzufallen droht, setzt man eben noch einen Schritt nach vorne. Und so geht das immer weiter, bis die Unlust, einen weiteren Schritt zu setzen, größer ist als die Scheu davor, umzufallen. Meistens ist dann ohnehin einer der Betreuer in der Nähe und fängt einen auf.
Eine Kompromisslösung zwischen dem friedvollen Dasein im Kinderwagen und dem schwankenden Zustand der Fortbewegung auf Beinen ist das sogenannte Getragenwerden. Es fußt auf der an sich guten Idee, für zwei Menschen nur zwei Beine zu verwenden, um Theos Beine zu schonen. Allerdings ist man als Getragener der Tragfähigkeit beziehungsweise Tragunfähigkeit des jeweiligen Trägers ausgesetzt. Es gibt Personen des Vertrauens, denen Theo seine intimsten Geheimnisse verraten
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