Theo
welches Theos scharfem Kameraauge entging. Hatte er es einmal aufgespürt, dann hieß es unbarmherzig: »Müss ma fotografieren.« Da gab es kein Wenn (»Wenn es wieder auftaucht, Theo!«) und kein Aber (»Aber es taucht heute wahrscheinlich nicht mehr auf, Theo!«). Ob das Tier nun da war oder nicht – fotografiert musste es werden.
Wie sehr Theo an diesem Tag die Tiere lieben lernte (die großen wie die kleinen, die dicken wie die dünnen), beweist unsere abschließende Episode.
Im Flamingo-Abteil entdeckte er ein Tier, welches soeben im Begriffe war, das umzäunte Gebiet zu verlassen. »Was ist das?«, fragte er. »Hier haben wir einen prächtigen Flamingo«, lehrte der Foto-Pädagoge. »An seinem roten Schnabel können wir recht gut erkennen …« – »Nein, nicht der Flamingo. Was ist das?«, unterbrach Theo mit zu Boden gesenktem Haupt und zappelte.
Der Betreuer folgte Theos Blicken – und landete vor seinen eigenen Füßen. – »Das ist, äh, ein Regenwurm«, verriet er hinter vorgehaltener Hand. – »Müss ma fotografieren«, befahl Theo.
Theo am Steuer
Der Versuch einer abgasfreien Erziehung ist kläglich gescheitert. Theo liebt Autos. Schlimmer noch: Theo verehrt Autos. Viel schlimmer noch: Theo braucht Autos. Viel, viel schlimmer noch: Ohne Autos hätte das Leben für Theo keinen Sinn.
Mit so viel Elan und Ehrgeiz sind Theos Chefpädagogen gegen die Motorisierung angetreten. Bis zur Selbstverleugnung, bis an den Rand der Umweltbewusstlosigkeit haben sie gegen den PS-Wahnsinn, dessen Geburtsstätte die Kinderstube ist, angekämpft. Vergeblich.
Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, was es für einen Vater heißt, einen Grand Prix der Formel-1-Boliden heimlich, ohne Ton, ohne Motorenklang am Bildschirm mitzuverfolgen. Wer es nicht selbst einmal mitmachen musste, hat keine Ahnung, was es für einen männlichen Österreicher bedeutet, Gerhard Berger an dem immer langsamer werdenden Michael Schumacher vorbeiziehen zu sehen und den patriotischen Jubelschrei unterdrücken zu müssen. (Und gleich darauf den patriotischen Verzweiflungsschrei, wenn sich herausstellt, dass der Überholvorgang in der Boxenstraße stattgefunden hat.)
Der Papa tat es – Theo zuliebe. Der sollte es einmal besser haben: Der sollte nächtens nicht durch seine eigenen »Brrrrm-brrrrrm«-Geräusche aus dem Schlafgerissen werden, schweißüberströmt nach dem zehnten riskanten Manöver. Theo sollte einmal vor dem Fernseher sitzen und seine Sportleidenschaft bei der Tour de France ausleben. Oder noch besser: vor den Seglern einer Regatta oder den Sportseefischern (sollten diese einmal auf Sendung sein). Solche Leute brauchen nicht einmal Kettenöl, so schonend gehen sie mit ihrer Umwelt um.
Am Anfang war es leicht, Theo fahrzeuglos zu erziehen. Man lehrte ihn einfach kein »Au« (schmerzfreie Pädagogik) und kein »To«. Was er nicht sprechen konnte, würde ihn nicht interessieren, dachte man.
Auch das familieneigene Fahrzeug wurde die erste Zeit erfolgreich von seinen Sinneseindrücken ferngehalten. Es war gar nicht nötig, Theo beim Transport die Augen zuzubinden. Man hob ihn mit einigen geschickten Handgriffen bei der Hintertür ins Wageninnere und versenkte ihn in seinem Kindersitz. Der war schon wegen seines mächtigen Gurtes ein eigenes, in sich abgeschlossenes Fortbewegungsmittel. Von dem Blechrahmen rundherum bekam Theo gar nichts mit. Und die Fahrt selbst war eine derartig verschwommene Angelegenheit, dass Theo bereits nach wenigen Sekunden einschlief.
Es waren letztendlich die vielen parkenden Autos, die die Gehsteige zierten, und die niemals versiegenden Verkehrsströme der Großstadt, die Theo das Gefühl nicht loswerden ließen, da gebe es etwas, das man ihm vorenthielt, vor dem man ihn hermetisch abriegelte.Irgendein Wesen, das den Menschen und seinen natürlichen Ausläufern, den Tieren, ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war. Etwas, das im Leben den Ton angab und das Tempo bestimmte. Etwas Kostbares, wofür der Mensch bereit war, alles zu geben, was er hatte. Und hatte er weniger, wandte er sich vertrauensvoll an die Bank.
Einmal standen sie alle davor. Und das Ding war gelb und schön und gurgelte wie Opa bei der Mundspülung. Theo konnte noch nicht viel. Aber er konnte »Da!« sagen. Und er konnte »Da?« fragen. Und er war alt genug, dass man ihm eine Antwort schuldete. Und würde er sie nicht auf der Stelle kriegen, könnte er eine Antenne knicken, einen Scheibenwischer
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