Thorn - Die letzte Rose
Irgendein Unzufriedener würde früher oder später plaudern oder, noch schlimmer, den Vatikan mit seinem Wissen erpressen. Würde das Wissen um die Vampire öffentlich werden, es hätte genau das zur Folge, was man verhindern will: Massenpanik, Hysterie, Verfolgungswahn und Selbstjustiz. Jeder, der ein bisschen skurril lebt, wäre sofort ein potentieller Vampir, auf den man Jagd macht.“
Die letzten Häuser von Rüdesheim flogen zu beiden Seiten vorbei und gingen in Weinberge über, umgeben von hohen Mauern aus Naturstein.
„Wie geht’s weiter?“, wollte sie wissen.
„Immer geradeaus, ich gebe Ihnen rechtzeitig Bescheid, wenn Sie abbiegen müssen. - Und Sie hatten nie engeren Kontakt zu einem dieser ... dieser Vampire?“ Das Wort kam ihm nur sehr zögerlich von der Zunge. „Ich meine ... waren sie für Sie immer nur Beute?“
Ihre Stimme nahm einen seltsamen Klang an: „Anfangs ja. Aber inzwischen habe ich zu unterscheiden gelernt. Ich bin bei ihnen bekannt wie ein bunter Hund. Ich jage nicht nur sie, sie jagen auch mich. Einmal haben sie mir sogar eine Falle gestellt, ich habe also ihre werte Aufmerksamkeit. Sie wussten, dass ich es auf ein Nest abgesehen hatte, doch sie trugen Schutzanzüge gegen das Sonnenlicht.“
„Aber Sie haben es überlebt.“
„Sonst wäre ich nicht hier“, knirschte sie. „Trotzdem – so richtig aussprechen, wie ich es mir manchmal wünschte, konnte ich mich nie mit einem von ihnen. Unsere Beziehung besteht vorwiegend aus Töten und Getötet werden. Leider. Allerdings geprägt von gegenseitigem Respekt. Obwohl mich wirklich interessieren würde, was in ihren düsteren Oberstübchen so vor sich geht.“
Vor ihnen erhob sich der Wald mit riesenhaften Tannen, durch deren nadeliges Geäst rotgolden die Morgensonne blinzelte. Sanft und vorsichtig streichelten ihre Strahlen das Land und erwärmten es, als wolle sie damit das Feld für das Bevorstehende bereiten.
„Sehen Sie, Herr Pfarrer, diese Gedankenlosigkeit ist einer der Gründe, weshalb ich Vampire so hasse. Nicht nur, weil sie brutal sind, das zeichnet sie nicht aus, das haben sie mit uns Menschen gemein. Auch nicht nur wegen dem, was dieser rotäugige Bastard meiner Familie angetan hat, eigentlich ist das Schnee von gestern. Aber die Sucker können gar nicht entscheiden, ob sie nun gut oder böse sein wollen. Sie müssen töten, weil es in ihrer Natur liegt, und nicht mal weil sie sich eben ernähren müssen. Besonders Rotauge nicht. Der behandelt Menschen wie Schlachtvieh. Er hat sogar ...“
„Moment, bitte“, wurde sie von dem Pfarrer unterbrochen, der wenig Phantasie benötigte, um aus ihren Worten zu schließen, der Mord an ihren Eltern war nicht Schnee von gestern. Es belastete sie noch immer und würde sie auch bis zu ihrem Lebensende oder zumindest dem ihres dubiosen Schicksals Rotauge belasten. „Da vorn ist es.“
Thorn trat die Bremse, der Wagen wurde langsamer und rollte in einer Wiese aus. Links am Straßenrand stand, umgeben von Wald und Dickicht, ein schmutziggraues, halb zerfallenes Haus, umgeben von einem Drahtzaun, der von Rost und grüner Farbe zusammengehalten wurde. Jenseits des Eingangstors, im Vorgarten, wucherte wild das Unkraut zu beachtlicher Höhe, Brombeersträucher schlängelten sich dazwischen wie stachlige Lianen in einem Dschungel. Ungezählte Ziegel des Walmdachs fehlten, hinab gewirbelt vom Zahn der Zahn oder orkanartigen Böen, die das Haus heimgesucht hatten. Der Putz war an unzähligen Stellen abgebröckelt, sämtliche Fensterläden waren geschlossen. Hier wohnte seit Jahren niemand. Mehr noch: Die Glassegmente der hölzernen Haustür waren teilweise zerschlagen und von innen mit Brettern verbarrikadiert worden. Vielleicht vom Eigentümer, um Tiere am Eindringen zu hindern, damit es hier nicht vor Mardern, Ratten und Eichhörnchen wimmelte. Vielleicht aber auch gegen das Sonnenlicht.
Burschikos parkte sie den Geländewagen auf der anderen Straßenseite und drehte den Zündschlüssel um, ohne das Gebäude nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Thorn musterte es ohne Unterlass, und ihr ein wenig entrückter Blick machte deutlich, in ihrem Kopf arbeitete es.
„Könnte wirklich ein Nest sein“, murmelte sie mehr zu sich selbst und nahm den Feldstecher vom Rücksitz, spähte hinüber.
„Die Polizei glaubt an einen Psychopathen“, erläuterte ihr Begleiter, „sie haben eine Sonderkommission gebildet. Als ich dem Kardinal von meiner Beobachtung erzählte, winkte er
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