Throne of Glass – Die Erwählte
»Das habt Ihr doch nicht gesagt, um das Unvermeidliche zu umgehen, oder?« Nein, sie hatte es gesagt, um überhaupt etwas zu sagen, um ihn so lange wie möglich hier festzuhalten und nicht noch einer Nacht allein ins Auge zu sehen. Cain war eine Bedrohung und trieb sich irgendwo hier herum. Und wo war sie in den dunklen Stunden der Nacht besser aufgehoben als an der Seite des Königssohns? Cain würde es nicht wagen, ihm etwas anzutun.
Aber all das … Die ganze Sache mit dem Ridderak bedeutete, dass es stimmte, was sie in den Büchern gelesen hatte. Was wäre, wenn Cain alles heraufbeschwören könnte – auch die Toten? Mit dem Verschwinden der Magie hatten viele Leute ihre Reichtümer verloren. Sogar der König selbst konnte an dieser Art von Macht Interesse haben.
»Ihr zittert ja«, sagte Dorian. Und es stimmte. Sie zitterte wie eine gottverdammte Idiotin. »Geht es Euch gut?« Er kam um den Tisch herum und setzte sich neben sie.
Sie konnte es ihm nicht sagen, nein, er durfte es niemals erfahren. Genauso wenig durfte er wissen, dass sie vor dem Abendessen frische Kreidezeichen unter ihrem Bett entdeckt hatte. Cain wusste, dass sie herausgefunden hatte, wie er seine Wettkampfgegner aus dem Weg räumte. Vielleicht würde er sie heute Nacht zur Strecke bringen wollen, vielleicht aber auch nicht – sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Auf jeden Fall würde sie heute Nacht kaum ein Augezumachen. Überhaupt würde sie erst wieder gut schlafen, wenn sie Cain mit ihrem Schwert durchbohrt hatte.
»Alles in Ordnung.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Wenn er weiterfragte, würde sie es ihm sagen müssen.
»Seid Ihr sicher, dass es Euch wirklich …?«, begann er, aber sie warf sich ihm entgegen und küsste ihn.
Beinahe hätte sie ihn auf den Fußboden befördert, aber er stützte sich rasch mit einem Arm an der Rückenlehne ab, während er sie mit dem anderen Arm um die Taille fasste. Sie ließ ihre Ängste und Gedanken davon hinwegspülen, wie er sich anfühlte, wie er schmeckte. Sie küsste ihn, als könnte sie seine Sorglosigkeit in sich hineinsaugen. Ihre Finger verfingen sich in seinen Haaren, und als er ihren Kuss leidenschaftlich erwiderte, trat alles andere in den Hintergrund.
~
Die Uhr schlug drei. Die Knie an die Brust gezogen, saß Celaena auf ihrem Bett. Nach stundenlangem Küssen und Reden und noch mehr Küssen auf ihrem Bett war Dorian vor wenigen Minuten gegangen. Fast hätte sie ihn gebeten zu bleiben – das wäre zwar schlau gewesen, aber bei der Vorstellung, Dorian könnte verletzt werden, wenn Cain oder ein Wesen aus der anderen Welt auf sie losgingen, hatte sie ihn dann doch gehen lassen.
Zum Lesen zu müde und zum Schlafen zu wach, starrte sie nur ins knisternde Feuer. Bei jedem Geräusch, jedem Schritt fuhr sie zusammen. Sie hatte ein paar Nadeln aus Philippas Nähkorb mitgehen lassen, als diese nicht hingesehen hatte, aber ein behelfsmäßiges Messer, ein schweres Buch und ein Kerzenleuchter schützten sie nicht vor dem, was Cain herbeirufen konnte.
Du hättest Damaris nicht in der Gruft zurücklassen sollen . Aber es warkeine Option, sich noch einmal dort hinunterzuwagen – nicht solange Cain am Leben war. Celaena schlug die Arme um ihre Knie. Es fröstelte sie bei der Erinnerung an die vollkommene Schwärze, aus der dieses Ding gekommen war.
Cain musste in den White Fang Mountains von den Wyrdzeichen gehört haben, der verfluchten Grenzregion zwischen Adarlan und den Western Wastes. Man erzählte sich, aus den Ruinen des Witch Kingdom kröche immer noch Böses hervor und alte Frauen mit Zähnen aus Eisen wanderten über die einsamen Straßen der Gebirgspässe.
Celaena bekam eine Gänsehaut und sie zog eine Pelzdecke heran und wickelte sich darin ein. Wenn sie bis zu den Zweikämpfen überlebte, würde sie Cain besiegen und alles wäre vorbei. Dann könnte sie endlich wieder gut schlafen – falls Elena nicht noch Größeres mit ihr vorhatte.
Celaena lehnte die Wange ans Knie und lauschte dem ticktack, ticktack der Uhr bis tief in die Nacht.
~
Donnernde Hufe stampften über den gefrorenen Boden und wurden immer schneller, als der Reiter das Pferd mit der Peitsche antrieb. Eine dicke Schicht Schnee und Matsch lag auf der Erde und einzelne Schneeflocken trieben über den Nachthimmel.
Celaena rannte – schneller, als ihre jungen Beine eigentlich konnten. Ihr tat alles weh. Äste rissen an Kleid und Haaren, Steine schnitten ihr die Füße auf. Sie hastete durch
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