Thursday Next 04 - Es ist was Faul
behalten – das war eine dieser paradoxen Geschichten, die Zeitreisende wie mein Vater verstehen, ich aber nicht. Inzwischen waren zwei Jahre vergangen. Landen war immer noch tot, und wenn ich nicht bald etwas dagegen unternahm, blieb er womöglich für immer in diesem Zustand.
THURSDAY NEXT Ein Leben für SpecOps
Zwei Wochen später, an einem hellen Julimorgen, stand ich mit einem Kleinkind, zwei Dodos, dem Prinzen von Dänemark, einem neuen Haarschnitt und einem ängstlichen Herzen an der Ecke Broome/Manor Lane in meiner Heimatstadt Swindon. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand das Haus meiner Mutter. Der GattungsRat hatte meinen Rücktritt gar nicht gut aufgenommen. Genauer gesagt: Sie hatten ihn gar nicht erst akzeptiert, sondern mir stattdessen einen unbegrenzten Urlaub gegeben. Sie äußerten mehrfach die Hoffnung, ich würde bald wieder zurückkehren, falls die Wiederherstellung meines Ehemanns sich »nicht einrichten« ließe. Sie ließen außerdem durchblicken, ich könnte mich vielleicht mit dem entlaufenen Fiktionauten Yorrick Kaine befassen, mit dem ich mich schon in der Vergangenheit hatte herumschlagen müssen.
Hamlet war eine Last-Minute-Entscheidung des GattungsRates gewesen. Er war schon seit langem darüber beunruhigt, dass er im Außenland als »Zauderer« galt, und hatte einen Erkundungsurlaub beantragt, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Das war insofern nicht ungewöhnlich, als sich besonders die Hauptfiguren der Belletristik zunehmend für ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit interessierten, aber meist beschränkte sich dieses Image-Bewusstsein auf die BuchWelt, und der GattungsRat versuchte diese psychologischen Probleme so weit wie möglich zu ignorieren. Aber da Hamlet nun einmal der absolute Star des Shakespear'schen Werks war und in diesem Jahr erneut seinem Erzrivalen Heathcliff den BuchWeltPreis für den besten Schwierigen Liebhaber hatte überlassen müssen, war der GattungsRat zu der Überzeugung gelangt, man müsse ihm etwas Gutes tun. Außerdem hatte Jurisfiktion ihn schon seit Monaten vergeblich als Agenten für den Bereich Elisabethanisches Drama anzuwerben versucht, weil sich Falstaff aus »gesundheitlichen Gründen« vom Dienst verabschiedet hatte. Die Reise ins Außenland, dachte man, könnte ihm die Sache vielleicht irgendwie schmackhafter machen.
»'s ist eigenartig!«, murmelte er und starrte abwechselnd die Sonne, die Bäume, die Häuser und den Verkehr an. »Man brauchte eine Rhapsodie von wirblicht wilden Worten, um all das zu beschreiben, was ich hier erblicke!«
»Sie werden Englisch reden müssen, da draußen.«
»All dies«, erklärte Hamlet und wedelte mit der Hand in Richtung der unscheinbaren Vorortstraße, »bedürfte etlicher Millionen Worte, um richtig wiedergegeben zu werden.«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Aber das ist ja gerade der Charme der literarischen ÜbertragungsTechnologie. Ein halbes Dutzend Wörter genügt, um ein Bild heraufzubeschwören. Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass der Leser die Arbeit fast gänzlich allein macht.«
»Der Leser? Was hat denn der damit zu tun?«
»Nun, jede Interpretation eines Ereignisses, eines Schauplatzes oder einer Figur in der BuchWelt hängt von den Erfahrungen ab, die der Leser an die Beschreibung derselben heranträgt. Sie ist in jedem Fall einzigartig und unverwechselbar, denn der Leser oder die Leserin bekleiden diese Beschreibung mit der Erinnerung an das, was sie selbst schon erlebt haben. Jede Figur, die ihnen in der Literatur begegnet, wird so zu einer Mischung aus Personen, die sie aus der Wirklichkeit oder aus anderen Werken schon kennen. Erst dadurch gewinnen sie ihre Realität. Die bloßen Buchstaben auf der Seite allein könnten das gar nicht leisten. Und weil jeder Leser unterschiedliche Erfahrungen hat, ist jedes Buch einzigartig für jeden Leser.«
»Das heißt aber auch«, sagte der Däne und dachte angestrengt nach, »dass eine komplexe und scheinbar widersprüchliche Figur und ein komplexer und widersprüchlicher Leser eine größere Anzahl von Interpretationen hervorbringen als schlichte Naturen, nicht wahr?«
»Aber ja. Ich würde sogar behaupten, dass ein Buch jedes Mal anders und neu ist, wenn man es neu liest. Die Erfahrungen, die man gemacht hat, haben sich nämlich verändert – oder man ist ganz einfach in anderer Stimmung.«
»Das erklärt natürlich, warum mich niemand versteht. Selbst nach vierhundert Jahren weiß immer noch keiner, was
Weitere Kostenlose Bücher