Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
Furchtlos hielt Gundhalinu seinem Blick stand, er blinzelte nur einmal langsam, als ob er ein Nicken andeuten wollte.
Brutal schlug Reede auf ihn ein; er spürte die Schmerzen des anderen, als ob er selbst mißhandelt würde, und auch die gleiche Mischung aus Angst und Lust, mit der er auf erlittene Qualen reagierte. »Zuerst wollte ich Sie töten, weil es nicht anders ging ... weil Sie zuviel wußten. Aber wenn ich Sie jetzt umbringe, geschieht es aus Rache.« Er ließ Gundhalinu auf die Felsen zurückfallen und stand auf.
Mit dem Stunner zielte er auf Gundhalinus Kopf; Gundhalinu zuckte mit keiner Wimper – er hätte es auch gar nicht gekonnt. Doch in seinen Augen las Reede Furcht und Verzweiflung ...
Kummer, Enttäuschung, Entsagen.
Kraftlos ließ er den Gewehrlauf sinken; vor seinem inneren Auge entstand eine Vision: er sah rote Felsen, den glänzenden Himmel und Gundhalinus Gesicht, das sich über ihn beugte ... Ihm wurde bewußt, daß er im Begriff stand, den Mann zu töten, der ihn vor dem Ertrinken gerettet hatte.
Die hellen, freundlichen Erinnerungen spülten seine Wut und Entschlossenheit davon. Er dachte an alles, was sie gemeinsam erreicht hatten, an die beinahe schon unheimliche Harmonie ihrer Gedanken, und daran, daß er noch nie zuvor mit jemand zusammengearbeitet hatte, der ihn ... der ihn ...
Er kehrte dem hilflos daliegenden Mann den Rücken zu und starrte auf den kochenden, glitzernden See, das Abbild des Chaos; er hörte das Schreien in seinem Kopf. Gundhalinu und er hatten in gemeinsamer Arbeit etwas geschaffen, das nun dabei war, dieses brodelnde Chaos in Ordnung zu verwandeln ...
Er schleuderte das Gewehr weit von sich, und sah zu, wie es in hohem Bogen durch die Luft wirbelte, um dann in den glitzernden Dunst hinabzutauchen – wie Gundhalinus Phiole.
Mit brennenden Augen drehte er sich um; seine Hände zitterten. »Ilmarinen ...«, flüsterte er. Er fiel auf die Knie, nahm Gundhalinus Hände in die seinen, und drückte sie gegen sein Gesicht und seine Lippen. Gequält und verständnislos blickte Gundhalinu ihn an.
Ilm
arinen –
sein Geist implodierte, als das Vakuum in seiner Seele sich zu füllen begann.
Taumelnd stand er auf und starrte wutentbrannt auf den See. »Warum haben Sie mich dazu gezwungen? Ich
muß
Sie töten ...« Ohne daß er es wollte, zückte er das Messer und kniete neben Gundhalinu nieder. Am ganzen Leib zitternd, hielt er ihm die Klinge an die Kehle. Doch er war von der gleichen Lähmung befallen wie sein wehrloses Opfer, seine Hände weigerten sich, die Tat auszuführen. Der Schmerz um den Verlust wäre zu groß gewesen.
Er sackte in sich zusammen, und das Messer fiel klappernd auf die heißen Felsen. Unter seinen Händen spürte er den Druck der unzähligen schreienden Münder und seelenlosen Augen. »Steh auf!« feuerte er sich selbst an. »Steh auf und tu es! Tu es! Tu
es!«
Seine Hand klammerte sich wieder um das Messer.
»Reede!«
Reede schaute hoch und sah mit fassungslosem Staunen, wie Ananke am Ausgang des Canyons erschien; aus seiner Versunkenheit erwachend, dämmerte ihm, daß er und Gundhalinu nicht die einzigen lebenden Wesen im Universum waren.
»Reede! Komm endlich!« Ananke ruderte mit dem Arm und gestikulierte in Richtung des Lagers.
»Was ist los?« schnauzte Reede wütend zurück, während er sich mit dem Messer in der Faust hochrappelte.
»Kedalion sagt, wir müssen sofort von hier verschwinden.«
»Warum?«
»Weil er die Armee herbeigerufen hat!«
Reede fluchte hingebungsvoll. Er zwang sich dazu, ein letztesmal auf Gundhalinu hinabzublicken. Er sah das Kleeblattmedaillon, das wie ein Stern auf seiner Brust glänzte, und hörte sein gequältes Keuchen. Er befingerte den Anhänger mit dem Solii, den er unter seinem Hemd trug. »Das Leben sei dir geschenkt, du verdammter ...«, stieß er mit schwankender Stimme hervor. »Es spielt ohnehin keine Rolle mehr, ob du lebst oder stirbst. Wir haben bekommen, was wir wollten.« Er holte aus und trat Gundhalinu mit dem schweren Stiefel in die Seite; vor Erleichterung wurde ihm schwindelig, als Gundhalinu einen schwachen Schrei ausstieß.
Reede fing an zu rennen und blieb erst wieder stehen, als er Ananke erreichte. Mit einem derben Schlag auf die Schulter riß er den Jungen aus seiner Erstarrung.
»Ist er tot?« fragte Ananke, dessen Gesichtszüge schlaff geworden waren. Offenen Mundes stierte er Gundhalinus reglose Gestalt an.
Reede gab keine Antwort, sondern trieb ihn vor sich her zum
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