Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
und das auch draußen noch zu hören war; der anmutige, synkopische Rhythmus gemahnte an einen Tanz, den zwei Verliebte aufführen, die erst noch zueinander finden müssen: kühnes Vorwärtsdrängen löste sich ab mit zaghaftem Zurückweichen und spielerischen Läufen, die von Sehnsucht und Zögern gleichermaßen erzählten ... Plötzlich sah er, wie die Musik und die Assoziationen, die sie in ihm erzeugte, vor seinen Augen Gestalt annahmen ... ein Zwischending aus Phantasie und Realität, halb wirklich und halb imaginär, wie die Geister, die er in Sanctuary gesehen hatte, oder wie das Gesicht, das in seinen Träumen erschien, umgeben von einer blauen Aura ...
Und da war sie ... aus dem sich verdichtenden Nebel tauchte sie auf, mal vage, mal wie ihr getreues Abbild, und streckte ihm die Hand entgegen; genauso hatte er sie in Erinnerung, und genauso wollte er sie sehen ... wie sie auf ihn wartete ...
Ohne auf die finsteren Blicke seiner Brüder oder das erstaunte Gemurmel der übrigen Gäste zu achten, stand er auf und trat mit ausgestreckter Hand auf die Vision zu; er nahm sie an der Hand, fühlte den kalten, dichten Nebel, aus dem sich ihre Gestalt formte, und führte sie kraft seiner Gedanken und mit seinem Herzen durch die akribisch genauen Tanzfiguren, zu denen die Musik aufspielte. Lächelnd erwiderte sie seinen Blick, und in ihren achatfarbenen Augen spiegelte sich seine eigene Sehnsucht, während ihr langes, bleiches Haar sie umhüllte wie Nebel ...
Sie tanzten, bis die Musik verklang; bei den letzten Takten verbeugte er sich vor ihr und ließ sie dann in den Nebel zurücksinken; ihre Gestalt löste sich auf in farbigen Wirbeln, die Regenbögen glichen oder den Bändern aus buntem Licht, die hoch über ihren Köpfen am Nachthimmel flatterten. Von Applaus begleitet kehrte er an seinen Platz zurück, ihm Gehen den Kopfset abnehmend ...
Jählings blieb er stehen; kaum war eine Vision verschwunden, da tauchte die nächste vor ihm auf. Er sah die geheimnisvolle Frau, der er in seinem Zimmer Zuflucht gewährt hatte.
In schwarzen Samt gekleidet, mit schimmernden Perlen geschmückt, stand sie da und starrte ihn an. Vor Schreck verschüttete sie den Inhalt eines Krugs, den sie in der hocherhobenen Hand hielt. Abwehrend hob Gundhalinu einen Arm, und dabei sah er, wie sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht von ungläubigem Staunen zu schierem Entsetzen verwandelte. Sie wollte das Unglück noch aufhalten, doch es war zu spät; klatschend landete der Inhalt des Krugs auf den Köpfen seiner Brüder. HK schrie überrascht auf, und SB purzelte von der Bank. In dem Krug hatte sich etwas befunden, das wie flüssiger Abfall aussah und auch so roch; Gundhalinu prallte zurück, als ihm der Gestank in die Nase stieg.
Einen endlos scheinenden Augenblick lang herrschte Schweigen, nur das Ächzen und Fluchen seiner Brüder war zu hören; und dann fing Gundhalinu schallend an zu lachen.
Die anderen Gäste blieben sitzen und gafften, und dann umringten auch schon Sicherheitskräfte – menschliche wie elektronische – die Dame in dem schwarzen Kleid. Sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt und unternahm auch nichts, um sich zu verteidigen; sie sah ihn nur mit einem Blick an, den er plötzlich verstand. Er hörte auf zu lachen.
»BZ, bei allen Göttern, Euch ist doch hoffentlich nichts passiert!« Pernatte eilte zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern, ohne seine Brüder auch nur eines Blickes zu würdigen. An seiner anderen Seite stand Vhanu und fragte ihn etwas, das er jedoch überhörte, denn nun gab Pernatte den Sicherheitskräften einen Wink: »Schafft sie fort, bei den Göttern! Laßt sie einsperren! «
»Wartet!« Gundhalinu hob die Hand, und die Sicherheitsleute ließen von der Frau ab. »Nehmt sie nicht fest!« Zuversicht mimend, ging er auf die Fremde und die bewaffneten Wächter zu. Diese blickten an ihm vorbei zu Pernatte, der ihnen offenbar ein Zeichen gab, denn sie zogen sich zurück. »Das war ein Mißverständnis, es sollte Teil der Vorführung sein; außerdem ist ja kein Schaden entstanden.«
Den silbernen, kronenartigen Kopfset hielt er in der Hand, und als er vor der Frau stand, setzte er ihn ihr auf den Kopf. »Der gehört Ihnen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Er nahm sie an die Hand, und wie eine Schlafwandlerin ließ sie sich von ihm auf den Patio hinaus und zu der Kiste führen; wie mit Tentakeln griff das kreative Medium nach ihnen, und unter ihren Schritten knisterte es wie Asche. Als
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