Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
hatte –, doch Vhanu bekam die Königin nicht zu Gesicht. Statt dessen traf er ihre Repräsentanten, die von einer blinden Frau namens Fate Ravenglass angeführt wurden, einer Sibylle aus dem Wintervolk. Darüber hatte sich Vhanu nicht gewundert, denn noch war er mit der herrschenden sozialen Situation zu wenig vertraut, um das Besondere an diesem Umstand zu erkennen. Man hatte einen offiziellen Termin für die Begegnung mit der Königin anberaumt, mehr nicht.
Gundhalinu betrachtete nicht länger die gaffenden Eingeborenen oder die merkwürdig vertrauten, bienenstockförmigen Häuser, die halb so alt waren wie die Zeit selbst, sondern sah sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe. Sein angespanntes, erwartungsvolles Gesicht blickte ihm entgegen, wie der Geist eines seiner Ahnen. In seiner Vorstellung sah er jedoch das glatte, unauffällige Gesicht des fünfundzwanzig Jahre alten Inspektors Gundhalinu, dessen Erinnerungen immer noch durch diese Stadt spukten, die er seit fast zwölf Jahren nicht gesehen hatte.
»Die Stadt selbst scheint sich kaum verändert zu haben«, meinte Vhanu neben ihm. »Das finde ich seltsam, wenn man an die Daten denkt, die wir gesammelt haben.«
»In Karbunkel sind seit jeher nur unwesentliche Veränderungen vorgenommen worden, und daran hat sich auch die Hegemonie gehalten«, erklärte Gundhalinu. »Diese Stadt ist auf ihre Art fast so etwas wie ein ... Mythos, ein funktionierendes Relikt aus dem Alten Imperium. Deshalb ließ ich mich ja hierher versetzen, als ich meinen ersten Außendienst in der Polizeitruppe antrat; ich wollte Karbunkel sehen, bevor es dafür zu spät war.«
»Und wurden Sie von der Realität enttäuscht?«
Gundhalinus Lippen zuckten. »Oberflächlich betrachtet, schon. Aber hier gibt es eine tieferliegende Wirklichkeit, dieser Ort hat eine Ausstrahlung, die weit über das hinausgeht, was das Auge sieht. In dieser Hinsicht kam ich voll auf meine Kosten, es war ein unvergeßliches Erlebnis.« Er lächelte verlegen. »Das hört sich wie metaphysisches Gefasel an, was?«
Vhanu lachte. »Doch, ja. Aber schließlich waren Sie schon hier, und ich noch nicht.«
»Ja, ich war hier.« Gundhalinu schaute wieder aus dem Fenster und atmete tief durch, um das beklemmende Gefühl zu überwinden, das ihm die Brust zuschnürte.
»Sagen Sie«, fragte Echarthe, »sind Sie jemals der früheren Königin begegnet?«
Gundhalinu schnitt eine Grimasse. »Ich hatte mehr als einmal das Pech. Alles, was in den Berichten über sie steht, stimmt; sie hat die Seelen der Menschen gefressen.«
»Kannten Sie damals schon die jetzige Königin?«
»Ich ... Ja, flüchtig. Aber zu der Zeit war sie noch nicht im Amt.« Er spürte, wie Vhanu ihn überrascht ansah. »Sie war in die Stadt gekommen, um nach dem Mann zu suchen, dem sie versprochen war, ihrem Gatten. Ich half ihr, ihn zu finden.« Er schaute kurz zu Echarthe hin und starrte dann aus dem Fenster.
»Und wie ist sie?«
Gundhalinu wählte die Worte mit Bedacht. »Resolut; klug; verdienstvoll.«
»In den Holos, die ich von ihr gesehen habe, ist ihre Ähnlichkeit mit der Schneekönigin schon beinahe unheimlich«, sagte Echarthe. »Es gab diesbezüglich auch Fragen in den Berichten über die Abreise. Wenn man bedenkt, welche sprunghafte Entwicklung die Technologie in der Zwischenzeit genommen hat, sollte man sich schon ernsthafte Gedanken darüber machen ...«
»Viele Tiamataner sehen einander sehr ähnlich«, fiel Gundhalinu ihm ins Wort. »Das Volk ist klein und lebt sehr isoliert, das heißt, daß der Genpool sehr konzentriert ist.« Er zeigte auf das Fenster. »Schauen Sie sich nur die Leute auf der Straße an, dann verstehen Sie, was ich meine.«
»Glauben Sie, daß die Königin Sie in angenehmer Erinnerung hat?« fragte Vhanu. »Wenn ja, dann würde es uns die Einsetzung einer neuen Regierung sehr erleichtern.«
Gundhalinu zuckte die Achseln; seine Mundwinkel hoben sich ein wenig. Mittlerweile hatten sie die Obere Stadt fast erreicht, und die Straße würde gleich aufhören. »Bald werden wir es wissen«, entgegnete er.
Endlich gelangten sie ans Ende der Straße und auf den weiten, mit Alabaster gepflasterten Platz vor dem Palast. Gundhalinu hatte ein seltsames Gefühl von Déjà vu, als er die Arbeiter sah, die den Stein fegten und schrubbten, um die Fläche makellos rein zu halten – genau wie vor fast zwanzig Jahren Lokalzeit, als er das letzte Mal an diesem Ort gewesen war. Vielleicht waren sogar noch ein paar der früheren
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