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Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Titel: Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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antwortete: »Dich kümmert’s nicht. Du siehst sie ja nie.«
    Dass ich mich hier ganz gern zu Hause fühlen möchte, kam ihm nicht in den Sinn. Er versucht erst gar nicht, sich in mich hineinzuversetzen. Herr Mussorkski meint, das liegt daran, dass ich es nie von ihm gefordert habe. So hätte Gerald es nicht lernen können. Es sei also eigentlich nicht Geralds, sondern meine Schuld. Er sagt, ich solle einfach mal abhauen, am besten, ohne vorher Bescheid zu geben. Natürlich müsste ich einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem ich meine Entscheidung erkläre. Und ich dürfte erst wiederkommen, wenn meine Familie mich auf Knien darum bitten würde. Ich hab ihn gefragt, wer das bezahlen solle. Liebe Frau Bundschuh, hat er geantwortet, das ist schon das erste Missverständnis. Es handelt sich hier nicht um einen Kurzurlaub, sondern um eine Art zwangsverordnete Evakuierung, um gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster zu durchbrechen und Platz für neue Erfahrungen zu schaffen. Aber wenn Sie sich immer selbst Steine in den Weg legen, werden Sie bis an Ihr Lebensende an Ihr unglückliches Dasein gekettet bleiben.
    Was denn für Steine?, wollte ich wissen. Er atmete tief ein und räusperte sich. Er mag nicht, wenn man ihn unterbricht und blöde Fragen stellt. Aber ich hatte es wirklich nicht ganz verstanden.
    Sie drücken sich um Veränderungen in ihrem Leben herum, hat er gesagt, indem Sie von vornherein nach Gründen suchen, warum etwas gar nicht funktionieren kann. So wird das nie funktionieren!
    So einfach ist das nicht, habe ich ihm geantwortet. Wir haben schlicht nicht das Geld, damit einer von uns mal schnell einen Privaturlaub machen kann.
    Na, vielleicht einfach mal auf ein neues Kleid verzichten?, sagte der doch glatt.
    Ich schluckte. Ich hatte bei der letzten Sitzung ein neues Kleid angehabt, das ihm nur aufgefallen sein konnte, weil ich sonst immer das gleiche anhabe. Ich mache mir nichts aus Mode! Überhaupt nicht. Und Gerald bemerkt sowieso nicht, wenn ich was Neues trage. Aber dieses Kleid hing in unserem Discountladen um die Ecke neben der Kasse und war für sage und schreibe neununddreißig Euro zu haben gewesen. Ich musste es nehmen. Es sah aus wie ein echtes Designerkleid, ziemlich bunt, aber kostbar.
    Na sehen Sie, sagte Herr Mussorkski. Das wären zwei Nächte in einem möblierten Zimmer. Denken Sie mal darüber nach, was Ihrer Meinung nach der Grund für diese bösen kleinen Steinchen sein könnte! Lauschen Sie in sich hinein! Damit erhob er sich und blinzelte mir hinter seinen Brillengläsern zu. Das ist Ihre Hausaufgabe bis zur nächsten Sitzung.

10.
    Kapitel
    »Was ist das denn?« Meine Mutter stand vor dem Weihnachtsbaum.
    »Unser Weihnachtsbaum«, sagte ich tapfer.
    »Wo habt ihr den denn her? Vom Sperrmüll? Und mit was hast du den behängt? Sind das alte Ostereier?«
    Warum war meine Mutter so boshaft? Vielleicht setzte ihr die Krankheit meines Vaters zu? Ich beschloss, freundlich zu bleiben, und sagte heiter: »Das sind Weihnachtskugeln. Die hab ich gestern noch gefunden. Stell dir vor, beim Türken! Mir gefallen sie.«
    Ich nahm eine rosafarbene mit goldenen Tupfen und streichelte sie zärtlich.
    »Beim Türken? Die wissen doch gar nicht, was Weihnachten ist.« Damit ließ sie mich stehen und lief in die Küche. »Edgar, was machst du denn da schon wieder?«, hörte ich sie fragen.
    »Ich suche die Toilette.«
    »Edgar, das ist die Küche. Mach bitte den Reißverschluss zu, du bist wirklich unmöglich. Gundula?« Sie steckte den Kopf durch die Tür. »Gundula, kannst du ihn mir abnehmen? Ich möchte mich ums Gepäck kümmern. Wo schlafen wir denn?«
    »In Rolfis Zimmer.«
    »Ach Gott.« Beim letzten Besuch war Rolfis Zimmer so vermüllt gewesen, dass sich die Tür kaum öffnen ließ. Aber dieses Mal hatte ich vorher Ordnung geschaffen.
    »Komm, Papa.«
    Mein Vater stand immer noch vor dem Spülbecken und dachte nach. Er drehte sich um und sah mich an. »Gundula! Wo kommst du denn auf einmal her?« Immerhin wusste er noch meinen Namen.
    »Wir feiern zusammen Weihnachten, Papa, und jetzt zeig ich dir die Toilette.«
    »Prima!«
    Vor der Toilette stand Rose. Sie trug einen grün-roten Rock in Schottenkaromuster und dazu einen gelben Rollkragenpullover. Ihre Füße steckten in selbst gestrickten braunen Socken und fleischfarbenen Gesundheitsschuhen. Als sie meinen Vater sah, sagte sie scheinheilig: »Ach, Vati, das ist aber eine Überraschung, dass du auch hier bist!« Dann versuchte sie ihm einen

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