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Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Titel: Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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hörte ein zartes Knurren wie aus einer fernen Welt. Othellos winzige Dackelschnauze lugte kurz unter Gullivers Hals hervor. Er hatte wahrscheinlich nach dem ersten Entenbein aufgegeben, sich zum Verdauungsschläfchen hingelegt, und Gulliver benutzte ihn jetzt als Kopfkissen. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
    Hinter mir hörte ich Schritte. »Gundula?« Meine Mutter erschien und schlug die Hände vors Gesicht. »Edgar! Was machst du hier unten?«
    »Die Verbindung war gekappt, aber jetzt funktioniert es wieder.« Er stand etwas schwerfällig auf, immerhin hatte er die halbe Flasche Eierlikör intus, und ging langsam an uns vorbei Richtung Treppe. In seinen Augen lag ein glückliches Strahlen. Er hatte ein paar schöne Momente im Getränkeraum verbracht.

11.
    Kapitel
    Kaffeezeit.
    Auch wenn die Enten dahin waren, konnte Weihnachten beginnen. Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Hans-Dieter legte sich auf den Boden vor den Weihnachtsbaum und stöhnte. Im hintersten Winkel der Küchenschublade hatte ich noch eine alte Packung Kamillenblüten gefunden und ihm eine große Kanne Tee gekocht. Wahrscheinlich stammten die Blüten noch aus Rolfis Säuglingszeit, er hatte als Baby unter schrecklichen Blähungen gelitten. Aber Hans-Dieter hatte keine Kraft mehr, auf das Ablaufdatum zu gucken, und trank brav seine Tasse aus.
    Wir anderen bevorzugten Kaffee, aßen Plätzchen aus der Dose und abgepackten Stollen. Der CD -Player lief, Orffs »Weihnachtsgeschichte«, das finde ich eigentlich sehr schön, aber man konnte fast nichts verstehen, weil alle durcheinanderredeten.
    Mein Vater beteiligte sich nicht am Gespräch. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl und beobachtete das Treiben um sich herum mit reglosem Gesicht. Ich konnte nicht sagen, ob er sich wohlfühlte, und unterbrach meine Mutter, die den Kindern gerade wahnsinnig lustige Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählte: »Papi guckt so komisch, geht es ihm gut?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    Er wirkte sehr verloren, deshalb streichelte ich ihm übers Knie.
    »Bitte sprich ihn nicht an, dann fängt er an nachzudenken und steht wieder auf. Ich bin froh, dass er mal sitzt, Gundula.«
    »Kann ich ja nicht wissen«, antwortete ich gekränkt.
    »Deswegen sag ich’s dir ja.«
    Mein Vater stand auf und verließ das Zimmer.
    Meine Mutter sah mich an und zuckte die Achseln.
    »Was ist? Warum guckst du so?«, fragte ich.
    »Ich habe gewusst, dass das passieren wird. Er mag nicht, wenn man ihn stört.«
    Und plötzlich war es wieder da. Mein Schuldgefühl ihr gegenüber. Dieses Schuldgefühl, für ihre Gefühlsschwankungen verantwortlich zu sein. Es war der Grund gewesen, warum ich ursprünglich Herrn Mussorkski aufgesucht hatte. Um mich damit auseinanderzusetzen, wer ich in Wirklichkeit bin. Denn wenn man bei der eigenen Mutter ständig schlechte Gefühle hervorruft, kann ja irgendwas mit einem selbst nicht stimmen.
    Herr Mussorkski meinte nur, um eine solche Frau wie meine Mutter verstehen zu können, bedürfe es schon hellseherischer Fähigkeiten. Ich solle meine Atemübungen machen und die Kügelchen schlucken. Dann würden zumindest meine eigenen Stimmungsschwankungen ausbleiben.
    Meine Mutter ist der Überzeugung, dass jeder erkennen muss, wie sie sich gerade fühlt. Wenn die Menschen nicht angemessen auf ihre Befindlichkeit reagieren, verfällt sie entweder in tagelanges Schweigen, oder sie erweist sich als Meisterin der Zwischentöne, der hingehauchten Vorwürfe, die sich im ersten Moment gar nicht wie solche anfühlen, sich dann aber als das entpuppen, was sie wirklich sind: ein Minenfeld. Dann gibt es kein Zurück mehr. Dann muss man sich mit ihr auseinandersetzen, bis man herausgefunden hat, was sie stört. Wichtig ist, dass man sie nicht bemitleidet, weil sie ja eine starke Frau ist, die nur durch das Zusammentreffen mit den falschen Leuten aus dem Gleichgewicht geraten ist.
    Mit meiner Mutter über längere Zeit zusammen zu sein ist für mich ein extremer Balanceakt, ich fühle mich oft wie auf einem Schleppseil über dem Grand Canyon. Jeden Moment kann ich in den Abgrund des Schweigens stürzen.
    Das musste an Weihnachten verhindert werden.
    »Rolfi, hol deinen Großvater wieder rein, bevor was passiert«, sagte ich entschlossen.
    »Was soll denn passieren?«, fragte Ricarda.
    »Ricarda, ich habe mit Rolfi gesprochen, also halt dich da bitte raus.«
    »Mann, Mama, sei doch nicht so hysterisch. Ich werde doch wohl fragen dürfen, warum er nicht allein nach draußen

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