Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
kann!«
»Das wird mir jetzt zu blöd, dann geh ich ihn eben selbst holen.« Meine Mutter stand auf. »Ich mach das ja sonst auch immer.«
»Lass ihn doch mal, Ilse!«, rief Susanne. »Du engst ihn viel zu sehr ein.«
Meine Mutter blieb wie versteinert stehen. Schwebte sie jetzt vielleicht schon über dem Grand Canyon? Manchmal konnte Susanne jedenfalls richtig interessante Gesprächsbeiträge leisten, dachte ich boshaft und schämte mich sofort dafür.
»Wie bitte?«, fragte meine Mutter scharf.
»Weißt du, Ilse, Edgar sieht wirklich nicht besonders glücklich aus. Er spricht so wenig. Früher war er kommunikativer, und ich glaube, das liegt daran, dass du zu sehr klammerst!«
»Das kann euch ja wohl egal sein.« Meine Mutter war offenbar nicht in Form, sonst hätte sie schlagfertiger reagiert.
»Wieso euch?«, fragte ich. »Ich hab doch gar nichts gesagt!«
»Also Ilse, das stimmt doch nicht. Wir haben dich und Edgar alle sehr lieb!« Das war Rose. Sie kniete neben Hadi und machte kinetische Übungen mit ihm.
Hans-Dieter stöhnte zustimmend. Was für ein Waschlappen.
»So, Ilse. Jetzt mach ich dir einen Vorschlag. Du ruhst dich aus, und ich suche Edgar.« Susanne erhob sich ächzend und wollte an meiner Mutter vorbei zur Tür.
»Du musst mir nicht helfen, Susanne«, sagte meine Mutter entschieden und stellte sich ihr in den Weg.
»Das weiß ich.«
»Susanne, du hast doch keine Ahnung, wie du mit ihm umgehen musst. Wahrscheinlich regt er sich nur auf, wenn du hinter ihm herläufst.«
»Na hör mal! Wie redest du denn mit mir?«
»Das hat doch nichts mit dir zu tun. Ich sage nur, wie es mit ziemlicher Sicherheit sein wird.«
»Ilse, ich weiß gar nicht, warum du jetzt so aggressiv wirst. Ich habe dir meine Hilfe angeboten, die kannst du annehmen oder es lassen, aber beleidigen musst du mich nicht.« Verstimmt ging sie zu ihrem Sessel zurück. Dann sagte sie: »Ich kann nur sagen, ich weiß, wie Edgar früher war, und sehe, wie er sich verändert hat. Selbst Männer, die an Demenz leiden, bleiben Männer und wollen als solche behandelt werden. Männer brauchen Freiheiten!«
Meine Mutter drehte sich noch mal um und lachte auf: »Das musst du gerade sagen, du hast Otti doch keine zwei Sekunden aus den Augen gelassen!«
Susannes Augen funkelten gefährlich. »Stimmt, wenn du in der Nähe warst, hab ich ihn keine zwei Sekunden aus den Augen lassen dürfen.«
Meine Mutter setzte ihren betroffenen Ausdruck auf. »Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich noch hier soll.« Ich war froh, dass ich nicht der Grund dafür war. Trotzdem fühlte ich mich schuldig, immerhin war ich die Gastgeberin.
»Ach Gott, jetzt geht die Leier wieder los. Du bist doch vollkommen verrückt, Ilse. Du verträgst nicht ein Fünkchen Kritik.«
»Aber du, ja?« Damit beendete meine Mutter das Gespräch und verschwand im ersten Stock.
»Ist noch etwas Kaffee da?« Susanne war ziemlich aufgebracht.
»Natürlich, Susanne, ich setz rasch neuen auf«, sagte ich.
»Das brauchst du nicht. Das war ja genau meine Frage.«
Matz lauschte völlig gebannt. Er hatte sich gerade einen Keks in den Mund geschoben, als der Streit zwischen seinen Großmüttern eskalierte. Seitdem saß er mit offenem Mund und großen Augen zwischen ihnen und hatte den Kopf hin und her gedreht wie bei einem guten Tennisspiel, um ja nichts zu verpassen.
»Bitte, bitte, ich brauche Ruhe!«, stöhnte Hans-Dieter von unten.
»Ja, wirklich«, sagte Rose. »Das ist doch nicht schön, am Weihnachtsabend zu streiten. Wir sollten lieber den Christbaum anzünden und ein bisschen in der Weihnachtsgeschichte lesen. Das machen Hans-Dieter und ich in Memmingen auch immer so, das bringt uns dem wahren Sinn des Weihnachtsfestes etwas näher.« Sie nahm sich noch ein Stück Stollen. Das wievielte war das jetzt?
»Was ist Memmingen?«, fragte Matz.
»Da kommen die her«, antwortete Rolfi.
Susanne fixierte die kauende Rose. »Kindchen, du weißt schon, dass du dir nach einem Stück Stollen das Weihnachtsessen sparen kannst?« Heute ließ sie nichts aus.
Aber obwohl mich diese Unterhaltung brennend interessiert hätte, wechselte ich doch rasch das Thema: »Wie machen wir das mit dem Essen heute Abend, eigentlich hatte ich ja vor, die Enten zu braten, aber die –« Weiter kam ich nicht, denn es schepperte ganz fürchterlich. Wir erstarrten und sahen einander an.
Ich sprang als Erste auf und lief in den Flur, um nachzusehen, was passiert war. Othello kam aus der Küche
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