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Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Titel: Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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vorstellen, Ricarda. Aber damals ging es ums nackte Überleben.«
    »Heute können aber Weihnachtsfeste auch an die Substanz gehen«, sagte ich abschließend. Dann stand ich auf, um Gerald wieder einzufangen. Ich hatte keine Lust mehr auf Susannes Kriegstagebücher.

30.
    Kapitel
    Gerald ist Einzelkind, und das sagt schon alles über ihn. Er wird nie etwas anderes sein als ein Einzelkind. Obwohl er drei Kinder gezeugt hat, wird er für immer und ewig das Einzelkind unserer Familie bleiben.
    Am glücklichsten ist er, wenn sich alles um ihn dreht. Er nennt sich selbst einen »genügsamen Menschen«. Dass er mir mit seiner Genügsamkeit den letzten Spaß am Leben raubt, kann er nicht verstehen. Früher war er kreativer, da sind wir dann schon mal samstags gemeinsam zum Familieneinkauf gefahren oder haben zusammen die Blumen für den Garten ausgesucht.
    Das interessiert ihn jetzt nicht mehr. Das Einzige, was ihn wirklich interessiert, ist die Anzahl der Tage bis zu seiner Pensionierung. Es sind nach jetzigem Stand noch 5196. Das weiß ich so genau, weil Gerald eine Strichliste im Schlafzimmer angebracht hat. Die ganze Wand am Fußende unseres Bettes ist voll mit Strichen und Kreuzchen. Jeden Morgen beim Aufwachen und jeden Abend beim Einschlafen gucke ich auf Geralds Strichliste. Das macht aus mir jetzt auch nicht wirklich einen fröhlicheren Menschen.
    Trotzdem wage ich zu behaupten, dass er mit seinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden ist. Nicht glücklich (wer ist schon glücklich!), aber zufrieden. Noch zufriedener wäre er wahrscheinlich, wenn er eine Frau hätte, die genauso lethargisch wäre, wie er es ist. Aber das bin ich nun mal nicht. Ich bin Sternzeichen Zwilling, Aszendent Fisch. Er ist Krebs, Aszendent Krebs. Nicht dass ich normalerweise viel auf Sternzeichen gäbe, aber bei Gerald stimmt das einfach. Er ist Krebs vom Scheitel bis zur Sohle!
    Gerald ist Susannes Zuckerjunge, ihr Ein und Alles. Es war anfangs, zu Beginn unserer Ehe, nicht gerade leicht für mich, das können Sie mir glauben. Susanne füllte alles aus bei ihm. Sie brauchte Geralds Liebe für sich allein.
    Susanne konnte mich vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. Sie hatte sich für ihren Sohn schon was Ansehnlicheres gewünscht, an mir gefiel ihr rein gar nichts. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum ich Gerald nie mehr losgelassen habe. Ich hätte Susanne den Triumph über eine Trennung nicht gegönnt.
    Nach der mittleren Reife machte Gerald in Bremen eine Ausbildung im mittleren Dienst beim Finanzamt. Das fanden meine Eltern nicht so toll. Aber sie waren Kummer gewohnt, denn ich wurde Sekretärin bei der Filmfirma, und Hans-Dieter lebte bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr in der Mansarde unseres Elternhauses und wartete darauf, dass jemand seine enorme schriftstellerische Begabung entdeckte.
    Jetzt stand ich in der Dunkelheit vor unserem Haus. Ich hatte mir meinen Mantel geschnappt und die Gäste Gäste sein lassen. Warum zum Teufel regnete es schon wieder in Strömen? Ich war in kürzester Zeit klatschnass. Vor mir erstreckte sich die Straße wie ein träger, schwarz glänzender Wurm, links und rechts gesäumt von kleinen Siedlungshäuschen. Hinter den meisten Fenstern war es bereits dunkel. Alle anderen hatten sicher das Weihnachtsfest harmonisch hinter sich gebracht und lagen nun glücklich in ihren Betten. Ich war bestimmt die einzige Frau hier, die mitten in der Nacht durch den strömenden Regen lief, um ihren entflohenen betrunkenen Mann zu suchen.
    Und doch hatte Geralds Flucht etwas Besonderes, ja, etwas Gutes, stellte ich fest. Als sei durch seinen Ausraster ein Knoten geplatzt. Was nun weiter geschehen würde, wusste ich nicht, aber es schien, als wäre er aus seiner Lethargie erwacht.
    Gerald war noch nie von zu Hause weggerannt. Normalerweise setzte er sich bei Missstimmungen mit seinen Kopfhörern ins Wohnzimmer und verschanzte sich hinter seiner Zeitung. Einmal hatte er sogar versucht, sich mit dem Kopfhörer über den Ohren an den Abendbrottisch zu setzen, hatte ihn aber irgendwann abgenommen, weil ich ein Riesentheater machte und mein Geschrei wahrscheinlich sogar Heino übertönte.
    Die Straße machte einen kleinen Schlenker, und an ihrem Ende sah ich jetzt die Straßenlaternen beim Einkaufszentrum. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wo ich nach Gerald suchen sollte.
    Ich beschleunigte meine Schritte. »Gerald!«
    Langsam wurde mir richtig kalt. Ich war bis auf die Haut durchnässt, und

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