Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
feinsinnig benimmst, Gundula. Das muss mal gesagt sein. Du bist manchmal genauso eine Dampfwalze wie deine Mutter.«
Ich schluckte.
»Also, das ist jetzt gar nicht böse gemeint, aber bei dir dreht sich doch auch alles immer nur um dich.«
»Susanne, das kannst du doch überhaupt nicht beurteilen.« Ich wollte ihr das Feld nicht ohne Weiteres überlassen.
»Es gibt Telefon, liebes Kind. Und Gerald hatte schon immer ein sehr enges Verhältnis zu mir.«
Er hatte also gepetzt. Er hatte seine Mami angerufen, um sich über mich zu beschweren. Das war unglaublich.
»Hat er dich angerufen?«
»Nein. Er telefoniert ja nicht so gern. Ich habe ihn angerufen, weil ich einen guten Instinkt habe, was meinen Sohn betrifft.«
»Und? Was hat er gesagt?«
»Nicht viel. Aber das sagt bei ihm schon alles.«
In dem Moment beneidete ich meinen Mann. Nicht, dass ich gern eine Mutter wie Susanne gehabt hätte. Aber jemanden, der merkt, wenn man traurig ist, hätte ich schon gern.
»Es ist aber auch nicht einfach. Vielleicht ist es ja das Alter.«
»Tja, Gundula, dann ist es an der Zeit, dass du dich kümmerst, sonst hast du Gerald nicht mehr lange.«
»Tut er sich jetzt was an?« Ricarda schien sich ernsthafte Sorgen zu machen.
»Nein. Aber früher oder später wird er eure Mutter verlassen, wenn sie so leichtfertig mit ihm umgeht.«
»Na, er könnte mich auch ein bisschen mehr unterstützen … zum Beispiel, wenn ich Stress habe, dass er mir mal bei irgendwas hilft, das ist schon sehr belastend für mich.« Das klang alles wenig überzeugend. Susanne und die Kinder sahen mich groß an und warteten auf ein besseres Beispiel.
»Das klingt jetzt nicht allzu schlimm, Mama«, sagte Ricarda.
»Also, zum Beispiel hatte ich ziemlichen Stress vor Weihnachten …«
»Aber Liebes, was hattest du denn für einen Stress?« Susanne richtete sich auf und sah mich an, als hätte ich einen schlechten Witz gemacht.
»Na ja … Die Weihnachtsvorbereitungen, das ist doch immer ziemlich viel so auf den letzten Drücker …«
»Es gab ja noch nicht mal ein ordentliches Essen!«
»Nein, das meine ich ja gar nicht, das …«
»Meinst du den Weihnachtsbaum?«
»Auch.«
»Aber den hat doch Gerald aufgestellt.«
»Na ja, schon, aber der Baum ist ja nicht das Einzige …« Mir fiel in dem Moment beim besten Willen nicht ein, was ich die letzten Tage über gemacht hatte. Ich begann zu schwitzen. Ich hasste Susanne dafür, dass sie mich so auflaufen ließ. Immerhin hatte sie sich wie jedes Jahr selbst eingeladen.
»Mami hat den Christbaum geschmückt«, sagte Rolfi.
»Ach so, natürlich. Der ist ja auch sehr hübsch, der kleine Baum.« Susanne legte den Kopf schief und betrachtete die Überreste unseres Tornadoopfers. Dann setzte sie nach: »Wie gut, dass ihr in der heutigen Zeit lebt. Früher war das alles viel komplizierter. Da hätte Weihnachten unter diesen Umständen gar nicht stattgefunden. Da durfte nichts schiefgehen.« Sie sah mich vielsagend an. »Da gab es keinen Pizzaservice und keinen Türken, der in letzter Minute für Kugeln sorgte!«
Irgendwann begann Susanne immer von den alten Zeiten zu erzählen und hörte dann nicht mehr auf. Ich ließ es geschehen.
»Ich erinnere mich daran, wie wir einmal bei einem Weihnachtsfest die Bewohner der ganzen Straße zu uns eingeladen haben. Die Straße war ausgebombt, und unser Haus war das einzige, das noch stand. Sie hatten alle ihre Bleibe verloren, und wir nahmen sie Heiligabend bei uns auf. Wir hatten nur rohe Kartoffeln zu essen, die ich mit meinem Bruder stundenlang von einem Feld geklaubt hatte.« Sie wandte sich an Ricarda und Rolfi. »Früher halfen die Kinder noch mit. Jedenfalls teilten wir auch die letzten paar Kartoffeln mit ihnen.«
»Wieso roh?«, fragte Ricarda. Schlaues Kind.
»Wie bitte?«
»Wieso die Kartoffeln roh waren.«
»Weil wir kein Feuer machen konnten, Schätzchen. Wir hatten keine Streichhölzer.«
»Rohe Kartoffeln sind giftig«, sagte ich.
»Im Krieg isst man alles, auch rohe Kartoffeln. Und dann liegt man nächtelang wach und betet, dass man trotzdem überlebt. Manche Leute haben auch Käfer und Würmer gegessen, da gab es gar keine Diskussion. Das könnt ihr euch heute gar nicht mehr vorstellen.« Sie nahm eine Handvoll Chips und schaute uns herausfordernd an.
»Ich will mir das gar nicht vorstellen. Ist doch scheiße, da denk ich lieber an was Schönes«, sagte Ricarda. Meine gute Tochter.
Susanne rümpfte die Nase. »Na ja, das kann ich mir
Weitere Kostenlose Bücher