Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
Wirklich nicht!« Damit ging sie aus der Küche. Ich atmete tief durch. »Und außerdem«, sie war noch mal zurückgekommen, »gehe ich jetzt ins Bett. Ich möchte morgen früh los.«
»Und Papi?«
»Du wolltest ihn doch unbedingt hierbehalten. Wenn er hier glücklicher ist, kann er gern noch ein paar Tage bleiben.« Dann machte sie kehrt und verschwand endgültig in den Flur.
Ich atmete noch einmal tief durch und fühlte mich plötzlich merkwürdig frei und erwachsen, so komisch das klingen mag. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht versucht hatte, Menschen gegen meinen eigenen Willen umzustimmen. Und das erste Mal hatte ich auch meiner Mutter Paroli geboten. Ich würde sie am nächsten Tag persönlich zum Bahnhof bringen und zusehen, wie der Zug abfuhr.
Ich musste an Herrn Mussorkskis Worte denken: »Sie müssen das Licht in sich anknipsen!«
Ich schüttete das Tomatenmark aus der Dose in ein Glas und gab Wasser nach. Dann kehrte ich mit Hans-Dieters Gemüsecocktail ins Wohnzimmer zurück.
Das Licht in mir brannte gleißend hell.
35.
Kapitel
Ich stellte den Gemüsecocktail vor Hans-Dieter auf den Tisch.
»Für wen ist das?«, fragte mein Vater alarmiert. Er lebte in der ständigen Angst, vergiftet zu werden. Susanne rümpfte beim Anblick der rötlichen Flüssigkeit die Nase und stieß geräuschvoll auf. Ich betrachtete meinen Cocktail. Das Tomatenmark hatte sich der Schwerkraft ergeben und bildete einen Klumpen am Boden des Glases. Sah wirklich nicht sehr appetitlich aus. Als hätte ich vorgehabt, Blutwurst zu machen.
Nach einer Schweigeminute griff Sunsanne wieder in die Chipsschüssel und sagte dann kauend: »Ich darf so was gar nicht essen wegen meinem Bluthochdruck, aber hier ist ja ansonsten Schmalhans Küchenmeister.«
Ich saß in meinem Sessel und beobachtete meine Familie. Alle wirkten erschöpft und unzufrieden. Da hörte ich mich mit einem Mal sagen: »Warum seid ihr eigentlich gekommen?«
Ich konnte es körperlich spüren, wie sich acht Augenpaare auf mein Gesicht hafteten. »Na ja …« Ich musste mich sammeln. Nicht aufgeben, Gundula Bundschuh, du bist die Hausherrin! »Du …, äh, ich meine … ich frage mich gerade, warum ihr alle gekommen seid, wenn es in Wirklichkeit keinem von uns gefällt …«
Susanne fasste sich als Erste: »Kindchen, sei nicht albern. Es ist wunderschön bei euch. Und das Essen werde ich auch noch überleben. Ich bin hart im Nehmen. Wenn ich dir nur einen Tipp geben darf: Gutes Essen ist wichtig, auch für die Entwicklung deiner Kinder. Sicher ist deine Ernährung auch ein Grund dafür, dass du so schlecht aussiehst, liebe Gundula.«
»Das glaube ich kaum, Susanne«, sagte ich und räumte die Chipsschalen ab.
»Was meinst du damit?«
»Mir ist heute etwas klar geworden, was ich lange nicht wahrhaben wollte.«
»Was meinst du damit?«
»Ich dachte, es ist eine gute Idee, euch hier aufzunehmen, aber ich glaube, zu Hause würdet ihr euch wohler fühlen.«
»Wie kommst du denn darauf? Wir sind doch eine Familie! Und nur weil deine Mutter, entschuldige, wenn ich das sage, aber … wenn sie so empfindlich ist und unter wahnhafter Eifersucht leidet, muss man den anderen doch den Spaß nicht verderben.«
»Ich glaube nicht, dass es nur an meiner Mutter liegt.«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: unter anderem.«
»Lass mal, Mutti«, meinte Gerald.
»Ich möchte, dass das unser letztes gemeinsames Weihnachtsfest hier in unserem Haus war. Seid mir bitte nicht böse, aber … Ich möchte, dass ihr morgen abreist.«
Jetzt war es heraus. Ich schluckte.
Totenstille senkte sich über den Raum, und ein eisiger Windhauch schien mein Gesicht zu streifen. Gerald sah mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen. Das machte mir Mut.
»Morgen gegen zwölf geht’s zum Bahnhof, dann können wir noch gemütlich zusammen frühstücken.«
Hans-Dieter grinste unsicher, und Susanne vergaß, ihren Mund zu schließen. Es war noch immer mucksmäuschenstill im Zimmer.
Dann sagte mein Vater: »Bravo, Ilse, das sind mal vernünftige Worte.«
»Ich bin’s, Papa, Gundula, aber das macht nichts. Ich möchte jetzt auch endlich mit meiner Familie allein sein.«
»Was denn für eine Familie? Wir sind deine Familie!«, sagte Susanne.
Niemand reagierte.
»Seid uns nicht böse«, sagte ich zu Rose und Hans-Dieter, »aber Gerald und ich müssen jetzt ins Bett. Ich buche die Züge also für zwölf Uhr.«
»Wir auch?«, fragte Hans-Dieter.
»Ja
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