Tief im Hochwald - Kriminalroman
und die Bereitschaft zu blindem Aktionismus aus.
»Mein lieber Herr Kollege«, schaltete sich Gunter ein, »Sie wissen selbst: im Zweifel für den Angeklagten. Solange nichts bewiesen ist und wir kein Geständnis haben, gilt der Pastor auf jeden Fall noch als unschuldig. Wenn er gleich kommt, wird er hoffentlich ein richtiges Geständnis ablegen und uns Namen nennen. Aber selbst wenn sich die Vorwürfe als gerechtfertigt erweisen würden, hätte er das Recht auf ein ordentliches Verfahren. Wir wissen nicht einmal, ob überhaupt etwas an den Geschichten dran ist. Wir wissen auch nicht, wie viele und welche Kinder betroffen sind. Ich verstehe Ihre Wut, und ich selbst habe keinerlei Verständnis für Kinderschänder. Ich bin schließlich selbst Vater, aber solange wir nur einen Verdacht haben, möchte ich, dass wir den Pastor fair, höflich und gerecht behandeln.«
Vanessa stockte, als sie merkte, dass Gunter ihrem Kollegen gerade eine ziemliche Vorlage geliefert hatte. »Sollte sich herausstellen, dass die Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen, hat er natürlich ebenso das Recht auf eine faire, höfliche und gerechte Behandlung, damit wir uns nicht falsch verstehen«, ergänzte sie.
Heiner Landscheid entwand sich ihrem Griff und drehte sich um. Seine Augen sprühten vor Verachtung.
»Polizeihauptmeister Landscheid, als ranghöhere Kollegin biete ich Ihnen an, sich von der Befragung des Herrn Feldmann zurückzuziehen und diese mir und meinem Kollegen Kommissar Hermesdorf zu überlassen. Falls Sie aber –«
»Kommt gar nicht in Frage«, unterbrach Landscheid sie.
»… falls Sie es aber vorziehen, an der Befragung teilzunehmen, fordere ich Sie dringend auf, sich an die allgemeinen Regeln von Recht und Ordnung zu halten, da ich mich sonst gezwungen sehe, ein Disziplinarverfahren gegen Sie einzuleiten«, sagte Vanessa, wohl wissend, dass sie dabei vielleicht ein wenig zu dick auftrug.
Landscheid schien in sich zusammenzufallen. »Schon gut, schon gut, Frau Kommissarin, ich habe verstanden«, brachte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor.
»Prima, ich möchte das Gespräch auch viel lieber mit Ihnen gemeinsam führen. Also reißen wir uns jetzt alle drei zusammen und warten auf den Pastor.«
»Sagen Sie nicht immer ›Pastor‹. Für mich hat er alle Würde verloren, da reicht ›Josef Feldmann‹ als Anrede völlig, will ich meinen.«
»Wenn Ihnen das leichterfällt, in kleinen Dingen bin ich großzügig«, versuchte Vanessa ihn aufzumuntern.
Die Eingangstür ging auf, und Heiner Landscheid zuckte zusammen, aber es war nicht der alte Pastor, sondern der neue. Sie erkannten ihn an dem vorsichtigen »Ist da jemand?«, das er nach hinten rief.
»Kein Wort, bevor wir nicht mit Herrn Feldmann gesprochen haben«, ermahnte Vanessa Landscheid und ging nach vorn. Pastor Lämmle stand vor dem Tresen und hielt den rosafarbenen Rosenkranz in der Hand, den Landscheid vorhin von seinem Schreibtisch dorthin gelegt hatte. Er bewegte lautlos die Lippen, und Vanessa wusste nicht, ob sie ihn unterbrechen durfte, falls er im Gebet war. Andererseits war es ihr wichtig, dass Pastor Lämmle zügig wieder ging, da Josef Feldmann in wenigen Minuten hier erscheinen sollte. Vorsichtig fragte sie: »Darf ich Sie unterbrechen?«
Der Pastor schüttelte den Kopf, was aber weniger eine Antwort auf ihre Frage zu sein schien als ein Zeichen von Ratlosigkeit.
»Was ist das für ein seltsamer Rosenkranz?«, erkundigte er sich stirnrunzelnd.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, wem er gehört, wir haben ihn …«, sie stockte, »… gefunden.«
»Den hat sicher jemand weggeworfen, der ist ja nicht vollständig«, erklärte der Pastor kopfschüttelnd.
»Nicht vollständig?« In ihren Augen sah das geschmacklose Schmuckstück völlig unversehrt aus.
»Sie sind nicht katholisch?«, fragte der Pastor.
»Mea culpa, ich bin von der anderen Fraktion.«
»Dann können Sie das natürlich nicht wissen«, räumte Lämmle verständnisvoll ein. »Sehen Sie mal genau her!« Er breitete die Kette auf dem Tresen kreisförmig aus. Auch Heiner Landscheid hatte sich zu ihnen gesellt und nickte dem Pastor zum Gruß zu. Gunter telefonierte im hinteren Büro.
»Ein normaler Rosenkranz hat neunundfünfzig Perlen. Dieser hier kam mir auf den ersten Blick schon seltsam vor. Wenn Sie nachzählen, kommen Sie auf weniger Perlen.«
Vanessa sah ihn zweifelnd an. »Wie konnten Sie das so schnell erkennen?«
»Jeder Rosenkranz folgt dem gleichen
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