Tief im Hochwald - Kriminalroman
Schreibtischstuhl fallen.
»Also, Herr Kollege, wahrscheinlich wird es das Beste sein, wenn Sie erst einmal nur zuhören und später Fragen stellen.« Vanessa räusperte sich, dann nahm sie all ihren Mut zusammen, blickte ihrem Kollegen ins Gesicht und sagte zügig und eine Spur zu laut:
»Wie es aussieht, hat Ihr Freund Pastor Josef Feldmann während seiner Amtszeit seine Vertrauensstellung missbraucht und Kinder und Jugendliche belästigt, genötigt oder sogar sexuell missbraucht. Die Details müssen wir noch ermitteln, aber wir haben den Verdacht, dass ihm irgendjemand diese Vergehen nicht verzeihen kann, wofür ich vollstes Verständnis habe, aber er scheint zu einer merkwürdigen Art von Selbstjustiz zu greifen. Ich habe bislang keine Ahnung, in welchem Verhältnis die Toten zu dem Pastor standen oder welche Bedeutung sie für den Mörder haben, aber der Pastor scheint in dieser Mordserie eine zentrale Rolle zu spielen.« Vanessa hielt inne und blickte besorgt ihren Kollegen an, der kreidebleich geworden war und den Kopf in die Hände gestützt hatte. Auf seinem unbehaarten Kopf hatten sich Schweißperlen gebildet.
Vanessa ging zum Kühlschrank und goss ihrem Kollegen ein Glas Mineralwasser ein, das dieser unbeachtet vor sich stehen ließ. Vanessa fühlte sich hilflos und konnte nicht einschätzen, was in Landscheid vorging. Sie bedauerte, dass Charlotte ausgerechnet jetzt nicht da war. Sie hatte sich angeboten, mit den Angehörigen von Thomas Jungblut zu sprechen und hätte längst wieder da sein sollen, aber das Gespräch schien sich länger hinzuziehen als erwartet. Blieb nur zu hoffen, dass Jungbluts weitere Details beisteuern konnten, denn es stellte sich die Frage, ob auch ihr Sohn ein Missbrauchsopfer gewesen war und deshalb hatte sterben müssen.
Plötzlich sprang Landscheid auf, wobei sein Stuhl krachend nach hinten fiel. »Das Schwein!«, schrie er. »Ich mach ihn platt, wenn er eins meiner Kinder angerührt hat!«
»Haben Sie ehrlich nichts davon gewusst?«, fragte Vanessa.
Ihr Kollege schwieg.
»Herr Landscheid?«
Landscheid richtete den Stuhl wieder auf, blieb hinter diesem stehen und hielt die Lehne fest mit beiden Händen umklammert. »Soll das hier ein Verhör sein?«, bellte er Vanessa an. »Bin ich irgendwie verdächtig?«
»Mir fällt nur auf, dass Sie meiner Frage ausweichen. Haben Sie davon gewusst?«
Landscheid ließ sich erneut schwer auf seinen Stuhl fallen und leerte das Glas in einem Zug. »Es gab immer wieder Gerüchte. Die Kinder kamen vom Firmunterricht nach Hause und erzählten ihren Eltern, der Pastor sei so seltsam. Ein paar Kinder entschieden sich kurzfristig, den Unterricht abzubrechen und auf die Firmung zu verzichten. Sicherlich wurde man als Eltern da hellhörig, aber daran dachte doch früher niemand. Der Pastor! Das war eine Respektsperson. Das konnte nicht sein. Ich erinnere mich, dass eine besorgte Mutter, ich weiß aber nicht mehr, wer das damals war, einmal einen Elternabend einberief, weil ihr Sohn seltsame Andeutungen zu Hause gemacht hatte. Zu der Besprechung kamen überwiegend Mütter von Mädchen, und die versicherten alle, es wäre alles in bester Ordnung. Der Pastor würde sich sehr viel Mühe geben und sei immer hilfsbereit und würde die Kinder unterstützen. Das haben die Mütter der Jungen auch zugegeben, und der Junge stand als Lügner da.« Landscheid wirkte, als sei ihm sein beleibter Körper im Weg. Immer wieder sprang er auf, lief durch den Raum, ließ sich auf einen Stuhl sinken, sprang erneut auf, lehnte sich an die Wand, setzte sich auf den Schreibtisch, lief wieder durch den Raum …
Vanessa hatte inzwischen den Blick abgewendet, weil ihr der Kollege viel zu hektisch war, aber sein Bewegungsdrang war einfacher vorherzusehen und zu ignorieren als seine Wut.
»Was machen wir mit dem Schwein?«, fragte Landscheid in die entstandene Stille hinein und starrte dabei aus dem Fenster in Richtung Kirche. »Ich möchte ihn gar nicht mehr beschützen, soll der Mörder sich ihn doch endlich holen.«
Allmählich wurde Vanessa unruhig. Ein Polizist mit Mut zur Lynchjustiz machte ihr noch mehr Angst als Otto Normalbürger, denn im Gegensatz zu dem besaß Landscheid eine Waffe. Das Letzte, was Vanessa jetzt gebrauchen konnte, war, ihren Kollegen in Gewahrsam nehmen zu müssen. Sie trat von hinten an Landscheid heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter, die sich warm und verschwitzt anfühlte. Sein Gesicht schien zu glühen und strahlte blanken Hass
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