Tief
Wange und fragte sich, warum sie hier war. Wollte sie ihm Schuldgefühle machen? Wollte sie ein besseres Verhältnis zu ihm herstellen? Er verstand es einfach nicht.
»Warum hast du heute so viele Zeitungen?«, fragte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.
»Nun, äh …« Er zögerte; die Antwort war offensichtlich. Jede Zeitung zog über Roddy Ormond her, und er genoss die Schmähungen sehr. Für gewöhnlich hätte er ihr das auch offen gesagt, aber heute war er angesichts ihrer schwarzblauen Prellung nicht in der Stimmung dazu. »An diesem Strand passieren außergewöhnliche Dinge.«
Er verzog sogar das Gesicht zu einer versöhnlichen Grimasse, aber sie achtete nicht darauf.
»Wie willst du Roddy vernichten?« Das hätte sie am liebsten gefragt, aber natürlich wagte sie es nicht. Sie machte sich keine Illusionen über ihre mentale Stärke – eine Konfrontation zu provozieren, konnte sie nicht riskieren. Sie schaffte es ja gerade so, sich im selben Zimmer wie er aufzuhalten.
Rattigan musterte sie mit leiser Verwirrung, dann widmete er sich wieder seinen Zeitungen. Die Berichterstattung über Roddy Ormond war grausam. Zu den auffälligeren Titelseiten gehörte die der Daily Mail . Der Zeitung war es gelungen, eine Aufnahme von Roddy zu machen, der gerade die Lanze in einen Wal stieß. Das Foto war durch einen Spalt in der Abschirmung von einem Boot auf dem Meer aus gemacht worden. Es war zwar nur verschwommen zu erkennen, aber die Hässlichkeit des Akts war nicht zu übersehen. MÖRDER ! lautete die Schlagzeile.
Rattigan blätterte die anderen Zeitungen durch, die ähnlich hysterisch berichteten. Die Schlagzeile WALE IN ANGST wurde begleitet von einem Foto der Kühlwagen, in die gerade Teile der Kadaver gepackt wurden. Der Independent titelte DER HINTERHÄLTIGE DOKTOR ORMOND UND DAS GEHEIMNIS DER ZWERGWALE . »Wie konnte die Regierung einen Mann auf diesen Posten berufen, dessen bedenkenlose und unverantwortlich betrügerische Haltung bereits bekannt war?«, las Rattigan.
Theresa betrachtete die Schlagzeilen auf den Zeitungen: EIN BLUTBAD ; IST DIESER MANN NOCH BEI VERSTAND ?; WICHTIGES MITGLIED DES KOMITEES TRITT ANGEWIDERT ZURÜCK ; ORMOND MUSS GEHEN … Wie ist das Tony nur gelungen?, dachte sie gequält. Sie wusste ja nicht, dass ihr Mann gerade erst angefangen hatte. Wie kann ich es nur herausfinden? Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und hastig griff sie nach einer Zeitung, hinter der sie sich verstecken konnte. Es war die Sun . Beinahe die gesamte erste Seite wurde beherrscht von einem kristallklaren Foto Roddys unter absolut jämmerlichen Umständen. Er stand vor dem Grand Hotel, nachdem die Polizei ihn durch die Menge geleitet hatte, Gesicht und Hals bespritzt mit Blut, Speichel und Eiern. Hinter ihm eine Collage aus Fäusten, Spruchbändern und wütenden Gesichtern. Roddy blickte mit weit aufgerissenen Augen um sich und wirkte wie ein gehetztes Tier. ZIEHT DEM FÄLSCHER DIE MASKE VOM GESICHT !, titelte die Sun .
Theresa legte die Zeitung nicht beiseite. Sie spürte die bohrenden Blicke und das Unbehagen ihres Mannes, der zu ergründen versuchte, was in ihr vorging.
* * *
Derek Petersen saß auf dem Bett seines Hotelzimmers. Er saß schon seit über vier Stunden da und starrte durch Blut und Tränen blicklos vor sich hin. Er war sechsundfünfzig Jahre alt, und das einzige Ereignis, das ihn in den letzten dreißig Jahren zum Weinen gebracht hatte, war der Unfall seiner Tochter gewesen.
Als er am späten Abend in sein Hotel zurückgekommen war, hatte er bemerkt, dass ihm ein Mann im Flur folgte. Da er noch über den unglückseligen Zwischenfall mit Roddy nachdachte, hatte er nicht weiter darauf geachtet. Doch als er sein Zimmer betrat und die Tür schließen wollte …
»Dr. Petersen.«
»Ja?«, antwortete er und sah verblüfft, dass der Mann im Türrahmen stand.
»Darf ich eintreten?«
Sein Verhalten wirkte nicht besonders bedrohlich, und doch stieg in Derek der Wunsch auf, der Mann möge verschwinden. Der Fremde war um die fünfzig, klein und unauffällig, mit kurzem, dunkelgrauem schütterem Haar. Er trug einen grauen Anzug, der irgendwie unmodern wirkte, und hatte eine abgeschabte Aktentasche aus braunem Leder dabei. Sein Gesicht war so nichtssagend, dass Derek es nicht hätte beschreiben können, wenn ihn jemand danach gefragt hätte.
»Wer sind Sie?«
»Das tut nichts zur Sache. Nennen Sie mich meinetwegen Barlow.«
Ein Irrer, dachte Derek und versuchte, die Tür zu
Weitere Kostenlose Bücher