Tiefe Wunden
heute im Krankenhaus begegnet. Er war auf dem Weg zu Ihrem Mann und schien sehr besorgt«, sagte sie mit der Absicht, Frau Nowak noch etwas mehr aus der Reserve zu locken. »Angeblich hat er nicht gewusst, dass seine Mutter Ihrem Mann noch Geld schuldet. Warum hat Ihr Mann ihm das nicht erzählt, wenn er doch mit ihm befreundet ist?«
»Befreundet? So würde ich das sicher nicht nennen! Der Kaltensee nutzt meinen Mann aus, aber Marcus kapiert das einfach nicht!«, erwiderte Frau Nowak heftig. »Alles dreht sich bei ihm nur noch um diesen Auftrag in Frankfurt! Dabei ist das der totale Wahnsinn! Das ist eine Nummer zu groß für ihn, damit übernimmt er sich völlig! Wie soll er das denn wohl bewältigen mit seinen paar Leuten? Sanierung der Frankfurter Altstadt – pah! Dieser Kaltensee hat ihm einen Floh ins Ohr gesetzt! Wenn das schiefgeht, ist alles verloren!«
Bitterkeit und Frustration sprachen aus diesen Worten. War sie eifersüchtig auf die Freundschaft zwischen ihrem Mann und Professor Kaltensee? Fürchtete sie sich vor einem möglichen Bankrott? Oder war es die Angst einer Frau, die spürte, dass ihre kleine, scheinbar heile Welt aus den Fugen geriet und sie die Kontrolle verlor? Pia stützte ihr Kinn in die Hand und betrachtete die Frau nachdenklich.
»Sie helfen mir nicht«, stellte sie fest. »Und ich frage mich,warum nicht? Wissen Sie tatsächlich so wenig über Ihren Mann? Oder ist es Ihnen gleichgültig, was ihm zugestoßen ist?«
Christina Nowak schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, das ist es mir nicht!«, erwiderte sie mit bebender Stimme. »Aber was soll ich denn tun? Marcus redet seit Monaten kaum noch mit mir! Ich habe absolut keine Ahnung, wer ihm das angetan hat und warum, weil ich gar nicht weiß, mit was für Leuten er zu tun hat! Aber eins weiß ich ganz sicher: Bei dem Streit mit den Kaltensees ging es nicht um einen Fehler, den Marcus gemacht hat, sondern um irgendeine Kiste, die bei den Arbeiten verschwunden sein soll. Marcus ist damals ein paarmal von Professor Kaltensee und Dr. Ritter, dem Sekretär von Vera Kaltensee, besucht worden. Sie haben stundenlang in seinem Büro gesessen und geheimnisvoll getan. Aber mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht darüber erzählen!«
In ihren Augen glänzten Tränen. »Ich mache mir wirklich Sorgen um meinen Mann«, sagte sie mit einer Hilflosigkeit, die in Pia unwillkürlich Mitleid erweckte. »Ich habe Angst um ihn und um unsere Kinder, weil ich nicht weiß, in was er da hineingeraten ist und warum er nicht mehr mit mir spricht!«
Sie wandte das Gesicht ab und schluchzte.
»Außerdem glaube ich, dass er ... dass er eine andere hat! Er fährt oft spätabends noch weg und kommt erst am nächsten Morgen zurück.«
Sie wühlte in ihrer Handtasche und vermied es, Pia an zusehen. Die Tränen rannen über ihr Gesicht. Pia reichte ihr ein Kleenex und wartete, bis Frau Nowak sich umständlich die Nase geputzt hatte.
»Das heißt, er könnte auch in der Nacht vom 0. April auf den 1. Mai nicht zu Hause gewesen sein?«, fragte sie leise.
Christina Nowak zuckte mit den Schultern und nickte. Als Pia schon glaubte, sie würde nichts mehr Interessantes erfahren, ließ die Frau eine Bombe platzen.
»Ich ... ich habe ihn neulich mit dieser Frau gesehen. In Königstein. Ich ... ich war in der Fußgängerzone und habe Bücher für den Kindergarten in der Buchhandlung abgeholt. Da habe ich sein Auto gegenüber von der Eisdiele stehen sehen. Gerade, als ich zu ihm hingehen wollte, kam eine Frau aus diesem heruntergekommenen Haus neben dem Lottoladen, und er stieg aus seinem Auto aus. Ich habe beobachtet, wie sie miteinander gesprochen haben.«
»Wann war das?«, fragte Pia wie elektrisiert. »Wie sah die Frau aus?«
»Groß, dunkelhaarig, elegant«, erwiderte Christina Nowak betrübt. »Wie er sie angeschaut hat ... und sie hat die Hand auf seinen Arm gelegt ...«
Sie schluchzte auf, und wieder strömten die Tränen. »Wann ist das gewesen?«, wiederholte Pia.
»Letzte Woche«, flüsterte Frau Nowak. »Am Freitag, ungefähr um Viertel nach zwölf. Ich ... ich dachte erst, es ginge um einen neuen Auftrag, aber dann ... dann ist sie bei Marcus ins Auto eingestiegen, und sie sind zusammen weggefahren.«
Als Pia in den Besprechungsraum hinüberging, hatte sie das Gefühl, einen Durchbruch erzielt zu haben. Nur ungern setzte sie Menschen so stark unter Druck, bis sie in Tränen ausbrachen, aber manchmal heiligte der Zweck eben die Mittel. Bodenstein
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