Tiefe Wunden
etwas von hundertsechzigtausend!«
»Dann würde aber mindestens noch eine Null fehlen«, widersprach Bodenstein.
»Na ja.« Pia zuckte die Achseln. »War auch nur eine Idee von mir.«
»Vergessen Sie Elard Kaltensee als Täter oder Anstifter«, sagte Bodenstein. Sein nachsichtiger Tonfall machte Pia plötzlich wütend.
»Nein, das tue ich nicht!«, entgegnete sie heftig. »Dieser Mann hat das stärkste Motiv von allen Leuten, mit denen wir bisher gesprochen haben! Sie hätten ihn neulich erleben sollen, in seiner Wohnung! Er sagte, er hasst diejenigen, die ihn daran gehindert hätten, mehr über seine wahre Herkunft zu erfahren! Und als ich ihn fragte, von wem er spräche, da sagte er: von denen, die Bescheid wissen . Er hätte sie am liebsten umgebracht. Ich habe nicht lockergelassen und weiter nachgefragt, und da sagte er, jetzt seien sie ja alle drei tot.«
Bodenstein blickte sie über das Autodach nachdenklich an.
»Kaltensee ist Anfang sechzig«, fuhr Pia etwas ruhiger fort. »Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, um herauszufinden, wer sein leiblicher Vater war! Er hat die drei Freunde seiner Mutter erschossen, als sie sich geweigert haben, ihm etwas zu sagen. Oder er hat Nowak dazu angestiftet! Und ich bin sicher, dass er als Nächstes seine Mutter umbringt. Die hasst er nämlich auch!«
»Sie haben keinen einzigen Beweis für Ihre Theorie«, sagte Bodenstein.
»Verdammt!« Pia schlug mit der Faust auf das Autodach.Lieber noch hätte sie ihren Chef an den Schultern gepackt und geschüttelt, weil er Offensichtliches einfach nicht sehen wollte. »Ich habe das sichere Gefühl, dass Kaltensee etwas damit zu tun hat! Warum gehen Sie nicht zurück ins Krankenhaus und fragen ihn nach seinen Alibis für die Tatzeiten? Ich wette, er sagt Ihnen, er wäre zu Hause gewesen. Allein.«
Statt zu antworten, warf Bodenstein ihr den Autoschlüssel zu.
»Schicken Sie mir einen Streifenwagen, der mich in einer halben Stunde hier abholt«, sagte er und ging zurück zum Krankenhaus.
Christina Nowak wartete im Vorraum der Wache und sprang auf, als Pia eintraf. Sie war sehr blass und sichtlich nervös.
»Hallo, Frau Nowak.« Pia reichte ihr die Hand. »Kommen Sie mit.«
Sie signalisierte dem Beamten hinter der Glasscheibe, sie hereinzulassen. Der Türdrücker summte. Gleichzeitig meldete sich Pias Handy. Es war Miriam.
»Bist du im Büro?« Die Stimme der Freundin klang aufgeregt.
»Ja, gerade eingetroffen.«
»Dann schau deine E-Mails nach. Ich habe die Sachen eingescannt und als Anhang geschickt. Außerdem hat mir die Archivarin noch ein paar Tipps gegeben. Ich unterhalte mich mit ein paar Leuten und melde mich wieder.«
»Okay. Schaue ich mir gleich an. Vielen Dank erst mal.« Vor ihrem Büro im ersten Stock blieb Pia stehen. »Würden Sie bitte einen Moment hier warten? Ich komme sofort.«
Christina Nowak nickte stumm und setzte sich auf einen der Plastikstühle im Flur. Von den Kollegen hielt Ostermann als Einziger die Stellung. Hasse war in den Taunusblick gefahren,um mit den Bewohnern zu sprechen, Fachinger suchte im Wohnblock in Niederhöchstadt nach möglichen Zeugen, und Behnke tat dasselbe in Königstein. Pia setzte sich an ihren Schreibtisch und rief ihre E-Mails auf. Neben dem üblichen Spam-Schrott, gegen den selbst die Firewall des Polizeiservers machtlos war, fand sie eine E-Mail mit einem polnischen Absender. Sie öffnete die angehängten Dokumente und betrachtete eines nach dem anderen.
»Wow«, murmelte sie und grinste. Miriam hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Sie hatte im Stadtarchiv von Wegorzewo Schulfotos aus dem Jahr 1933 gefunden, die die Abschlussklasse des Gymnasiums in Angerburg zeigten, und einen Zeitungsartikel über die Siegerehrung einer Segelregatta, da Angerburg am Mauersee schon damals eine Hochburg des Wassersports gewesen war. Auf beiden Fotos war David Goldberg abgebildet, in der Zeitung wurde er sogar mehrfach erwähnt: als Regattasieger und Sohn des Angerburger Kaufmanns Samuel Goldberg, der den Preis für die Regatta gestiftet hatte. Das war der echte David Goldberg, der im Januar 1945 in Auschwitz sterben musste. Er hatte dunkles lockiges Haar, tiefliegende Augen und war klein und schmächtig, nicht größer als eins siebzig. Der Mann, der in seinem Haus in Kelkheim erschossen wurde, musste in jüngeren Jahren ungefähr eins fünfundachtzig groß gewesen sein. Pia beugte sich über den Zeitungsartikel aus den Angerburger Nachrichten vom 22. Juli 1933. Die siegreiche
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