Tiefe Wunden
Marcus und ich haben beschlossen, unseren Familien die Wahrheit über unsere Beziehung zu sagen. Wir wollen nicht länger heimlich tun. Für mich ist das nicht so schlimm, mein Ruf ist sowieso zweifelhaft, aber für Marcus ist das ein schwerer Schritt.«
Das glaubte ihm Pia aufs Wort. Marcus Nowaks Umfeld brächte niemals auch nur einen Funken von Verständnis für diese Liebe auf. Sein Vater und die ganze Familie würden wahrscheinlich kollektiv Harakiri begehen, wenn in Fischbach bekannt wurde, dass ihr Sohn, Ehemann oder Bruder seine Familie für einen dreißig Jahre älteren Mann verlassen hatte.
»Ich möchte mit Marcus noch einmal hierherfahren.« Elard Kaltensee ließ seinen Blick über den See schweifen, der im Sonnenlicht glitzerte. »Vielleicht kann man das Schlosswieder aufbauen, wenn die Besitzverhältnisse geklärt sind. Marcus kann das besser beurteilen als ich. Aber es wäre doch ein herrliches Hotel, direkt am See.«
Pia lächelte und warf einen Blick auf die Uhr. Es war höchste Zeit, Bodenstein anzurufen!
»Ich schlage vor, wir bringen Frau Kaltensee zum Auto«, sagte sie. »Und dann fahren wir alle zusammen ...«
»Niemand fährt irgendwohin«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Pia fuhr erschrocken herum und blickte direkt in den Lauf einer Waffe. Drei schwarzgekleidete Gestalten mit Sturmhauben vor den Gesichtern und gezogenen Pistolen kamen die Treppenstufen hinauf.
»Na endlich, Moormann«, hörte sie Vera Kaltensee sagen. »Das wurde aber auch langsam Zeit.«
»Wo ist Moormann?«, fragte Bodenstein den Chef der K-Secure.
»Falls er mit einem Auto unterwegs ist, kann ich das fest stellen.« Henri Améry war nicht scharf auf eine Vorstrafe und daher die Hilfsbereitschaft in Person. »Alle Fahrzeuge der Familie Kaltensee und der K-Secure sind mit einem Chip ausgestattet, durch den man sie mit Hilfe einer Software orten kann.«
»Wie geht das?«
»Wenn Sie mich an einen Computer lassen, zeige ich es Ihnen.«
Bodenstein zögerte nicht lange und brachte den Mann aus dem Verhörraum zu Ostermann in den ersten Stock.
»Bitte.« Er wies auf den Schreibtisch. Bodenstein, Ostermann, Behnke und Dr. Engel verfolgten interessiert, wie Améry den Namen einer Webseite namens Minor Planet eingab. Er wartete, bis sich die Seite aufgebaut hatte, dann loggte er sich mit Benutzernamen und Passwort ein. Eine Landkartevon Europa erschien, darunter waren sämtliche Fahrzeuge mit Kennzeichen aufgelistet.
»Wir haben dieses Überwachungssystem damals eingeführt, damit ich jederzeit sehen kann, wo meine Mitarbeiter sind«, erklärte Améry. »Und für den Fall, dass irgendein Auto gestohlen werden sollte.«
»Mit welchem Auto könnte Moormann unterwegs sein?«, fragte Bodenstein.
»Weiß ich nicht. Ich versuche eines nach dem anderen.« Nicola Engel bedeutete Bodenstein, ihr hinaus auf den Flur zu folgen.
»Ich besorge einen Haftbefehl für Siegbert Kaltensee«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Mit Jutta Kaltensee wird es Probleme geben, weil sie als Landtagsabgeordnete Immunität genießt, aber ich werde sie auf jeden Fall zu einem Gespräch abholen und hierherbringen.«
»Okay.« Bodenstein nickte. »Ich fahre mit Améry zum Kunsthaus. Vielleicht finden wir dort Ritter.«
»Siegbert Kaltensee weiß, was passiert ist«, vermutete Nicola Engel. »Er hat ein schlechtes Gewissen wegen seiner Tochter.«
»Das glaube ich auch.«
»Ich hab’s«, meldete sich Améry aus dem Büro. »Er muss den M-Klasse-Mercedes vom Mühlenhof genommen haben, denn der ist an einem Ort, an dem er nicht sein dürfte. In Polen, in einem Ort namens ... Doba. Das Fahrzeug steht seit dreiundvierzig Minuten.«
Bodenstein spürte, wie ihm eiskalt wurde. Moormann, der mutmaßliche Mörder von Robert Watkowiak und Monika Krämer, war in Polen! Am Telefon hatte Pia ihm vor ein paar Stunden gesagt, dass sie gleich am Ziel seien und Dr. Kirchhoff den Keller gründlich untersuchen würde. Es war also nicht anzunehmen, dass sie das Schloss schon wieder verlassenhatten. Was wollte Moormann überhaupt in Polen? Und ganz plötzlich begriff er, wo Elard Kaltensee war. Er wandte sich dem Chef der K-Secure zu.
»Überprüfen Sie den Maibach«, sagte er mit belegter Stimme. »Wo ist der?«
Améry klickte auf das Kennzeichen der Limousine.
»Auch dort«, sagte er wenig später. »Nein, Moment. Der Maibach ist seit einer Minute in Bewegung.«
Bodensteins Blick begegnete dem von Nicola Engel. Sie verstand sofort.
»Ostermann,
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