Tiefe Wunden
gesteckt. »Wir wissen, was damals hier geschehen ist. Und wenn wir Knochenreste finden und DNA extrahieren können, haben wir auch einen Beweis.«
»Ich meinte eigentlich Marcus«, entgegnete Elard besorgt. »Geht es ihm wirklich so schlecht?«
»Gestern Abend war sein Zustand kritisch«, antwortete Pia. »Aber sie werden sich im Krankenhaus schon gut um ihn kümmern.«
»Es ist alles meine Schuld.« Elard legte beide Hände über Mund und Nase und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Hätte ich nur die Finger von dieser Kiste gelassen! Dann wäre das alles nicht passiert!«
Damit hatte er zweifellos recht. Einige Menschen würden noch leben, und alle Familiengeheimnisse der Kaltensees wären nach wie vor wohlgehütet. Pias Blick wanderte zu Vera, die eine ausdruckslose Miene aufgesetzt hatte. Wie konnte ein Mensch mit einer solchen Schuld leben, so kalt und gleichgültig sein?
»Warum haben Sie den Jungen damals eigentlich nicht auch noch erschossen?«, fragte Pia. Die alte Frau hob den Kopf und starrte sie an. In ihren Augen loderte auch nach sechzig Jahren noch der blanke Hass.
»Er war mein Triumph über diese Person«, zischte sie und nickte in Augustes Richtung. »Wenn sie nicht gewesen wäre, dann hätte er mich geheiratet!«
»Niemals«, warf Auguste Nowak ein. »Elard konnte dich nicht ausstehen. Er war nur zu wohlerzogen, um dich das spüren zu lassen.«
»Wohlerzogen!«, schnaubte Vera Kaltensee. »Das ist doch lächerlich! Ich habe ihn sowieso nicht mehr gewollt. Wie konnte er nur die Tochter jüdischer Bolschewiken schwängern? Er hatte sein Leben sowieso verwirkt, auf Rassenschande stand die Todesstrafe.«
Elard Kaltensee starrte die Frau, die er zeit seines Lebens »Mutter« genannt hatte, fassungslos an. Auguste Nowak hingegen blieb erstaunlich gelassen.
»Stell dir vor, wie Elard sich amüsiert hätte, Edda«, entgegnete sie spöttisch, »hätte er gewusst, dass sich ausgerechnet dein Bruder, der Obersturmbannführer, sechzig Jahre lang als Jude verkleiden würde, um seine Haut zu retten! Der strammste Nazi von allen hat eine jüdische Mamme geheiratet und musste jiddisch sprechen!«
Vera Kaltensees Augen schleuderten wütende Blitze.
»Schade, dass du nicht hören konntest, wie jämmerlich er um sein Leben gebettelt hat«, fuhr Auguste Nowak fort. »Er ist gestorben, wie er gelebt hat, ein armseliger, feiger Wurm! Meine Familie ist dagegen aufrecht in den Tod gegangen, ohne zu jammern. Sie waren keine Feiglinge, die sich hinter einem falschen Namen verkrochen haben.«
»Deine Familie , dass ich nicht lache!«, giftete Vera Kaltensee.
»Ja, meine Familie. Pastor Kunisch hat Elard und mich an Weihnachten 1944 in der Bibliothek des Schlosses getraut. Das konnte Oskar nicht verhindern.«
»Das ist nicht wahr!« Vera rüttelte an ihren Fesseln.
»Doch.« Auguste Nowak nickte und ergriff Elards Hand. »Mein Heinrich, den du als deinen Sohn ausgegeben hast, ist der Freiherr von Zeydlitz-Lauenburg.«
»Ihm gehört also der Mühlenhof«, stellte Pia fest. »Auch die KMF gehört von Rechts wegen nicht Ihnen. Sie haben sich Ihr ganzes Leben nur zusammengestohlen, Edda. Wer im Weg war, der wurde beseitigt. Ihren Mann Eugen, den haben Sie selbst die Kellertreppe hinuntergestoßen, nicht wahr? Und die Mutter von Robert Watkowiak, das bedauernswerte Dienstmädchen, musste auch sterben. Übrigens haben wir ihre Überreste auf dem Gelände des Mühlenhofs gefunden.«
»Was blieb mir schon anderes übrig?« Vera Kaltensee war sich in ihrem Zorn nicht darüber im Klaren, dass sie mit ihren Worten ein Geständnis ablegte. »Siegbert wollte diese ordinäre Person tatsächlich heiraten!«
»Vielleicht wäre er mit ihr glücklicher geworden, als er es jetzt ist. Aber Sie haben das verhindert und gedacht, Sie kommen mit allen Morden davon«, sagte Pia. »Womit Sie nicht gerechnet haben, war, dass Vicky Endrikat das Massaker überleben würde. Haben Sie Angst bekommen, als Sie von der Zahl erfuhren, die neben den Leichen Ihres Bruders, von Hans Kallweit und Maria Willumat gefunden wurde?«
Vera zitterte am ganzen Körper vor Wut. Nichts erinnerte mehr an die vornehme, freundliche Dame, mit der Pia einmal sogar Mitleid empfunden hatte.
»Wessen Plan war es eigentlich damals gewesen, die Endrikats und die Zeydlitz-Lauenburgs zu erschießen?«
»Meiner.« Vera Kaltensee lächelte mit offensichtlicher Befriedigung.
»Sie hatten Ihre große Chance gesehen, nicht wahr?«, fuhr Pia fort. »Ihren Aufstieg in
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