Tiefe Wunden
mir, ich solle mich zur Verfügung halten, um später zur Roten Mühle zu kommen und Fotos zu machen«, erwiderte Améry unbehaglich. »Um halb elf bekam ich eine SMS, dass es in zwanzig Minuten so weit wäre.«
Er warf Bodenstein einen kurzen Blick zu und lächelte zerknirscht.
»Tut mir leid. War nichts Persönliches.«
»Haben Sie Bilder gemacht?«, fragte Dr. Engel.
»Ja.«
»Wo sind die?«
»In meinem Handy und auf meinem Rechner im Büro.«
»Den werden wir beschlagnahmen.«
»Von mir aus.« Améry zuckte wieder die Achseln. »Welche Weisungsbefugnis hat Jutta Kaltensee Ihnen gegenüber?«
»Sie hat mich für Sonderaufträge extra bezahlt.« Henri Améry war Söldner und kannte keine Loyalität, zumal ihn die Familie Kaltensee in Zukunft nicht mehr bezahlen würde. »Gelegentlich war ich ihr Bodyguard, hin und wieder ihr Liebhaber.«
Nicola Engel nickte zufrieden. Genau das hatte sie hören wollen.
»Wie haben Sie Vera eigentlich über die Grenze bekommen?«, erkundigte sich Pia.
»Im Kofferraum.« Elard Kaltensee lächelte grimmig. »Der Maibach hat ein Diplomatenkennzeichen. Ich hatte darauf gezählt, dass man uns an der Grenze einfach durchwinken würde, und so war es auch.«
Pia dachte an die Äußerung von Bodensteins Schwiegermutter, Elard sei kein tatkräftiger Mensch. Was hatte ihn veranlasst, schließlich doch die Initiative zu ergreifen?
»Vielleicht hätte ich mich weiterhin mit Tavor zugedröhnt, um der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen«, erläuterte Kaltensee. »Wenn sie nicht das mit Marcus gemacht hätte. Als ich von Ihnen erfahren habe, dass Vera ihm nie Geld für seine Arbeit gegeben hat, und als ich ihn dann da habe liegen sehen, so ... so misshandelt und verletzt, da ist irgendetwas mit mir passiert. Ich war plötzlich so wütend auf sie, darüber, wie sie mit Menschen umspringt, wie verächtlichund gleichgültig! Und ich wusste, dass ich sie stoppen muss und mit allen Mitteln daran hindern, wieder alles zu vertuschen.«
Er hielt inne, schüttelte den Kopf.
»Ich hatte mitbekommen, dass sie sich heimlich, still und leise über Italien nach Südamerika absetzen wollte, und konnte deshalb nicht länger warten. Am Tor stand ein Polizeiauto, also bin ich auf einem anderen Weg zum Haus gefahren. Den ganzen Tag ergab sich keine Gelegenheit, aber dann fuhr Jutta mit Moormann weg und wenig später auch Siegbert, da konnte ich meine Mu... ich meine ... diese Frau überwältigen. Der Rest war ein Kinderspiel.«
»Wieso haben Sie Ihren Mercedes am Flughafen abgestellt?«
»Um eine falsche Spur zu legen«, erklärte er. »Dabei habe ich weniger an die Polizei gedacht als an die Werkschutzleute meines Bruders, die mir und Marcus ja dicht auf den Fersen waren. Sie musste leider so lange im Kofferraum des Maibach ausharren, bis ich zurück war.«
»Sie haben sich im Krankenhaus bei Nowak als dessen Vater ausgegeben.« Pia blickte ihn an. Er wirkte so entspannt wie nie zuvor, endlich im Reinen mit sich und seiner Vergangenheit. Sein persönlicher Alptraum war zu Ende, nachdem er sich von der Bürde der Ungewissheit befreit hatte.
»Nein«, mischte sich Auguste Nowak ein. »Ich habe gesagt, er sei mein Sohn. Und damit hatte ich ja auch nicht gelogen.«
»Stimmt.« Pia nickte und sah Elard Kaltensee an. »Ich habe Sie die ganze Zeit für den Mörder gehalten. Sie und Marcus Nowak.«
»Ich kann’s Ihnen nicht verdenken«, erwiderte Elard. »Wir haben uns ja auch ziemlich verdächtig verhalten, ohne es zu wollen. Ich habe diese Morde gar nicht richtig wahrgenommen,ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Marcus und ich, wir waren beide völlig durcheinander. Eine ganze Weile wollten wir uns das beide nicht eingestehen, es war ... es war irgendwie undenkbar. Ich meine, weder er noch ich hatten jemals zuvor etwas mit einem ... Mann.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Die Nächte, für die wir keine Alibis hatten, haben Marcus und ich gemeinsam in meiner Frankfurter Wohnung verbracht.«
»Er ist Ihr Neffe. Sie sind blutsverwandt«, bemerkte Pia. »Na ja«, ein Lächeln huschte über Elard Kaltensees Gesicht, »wir werden wohl kaum zusammen Kinder haben.« Da musste Pia auch lächeln.
»Schade, dass Sie mir das alles nicht viel eher gesagt haben«, sagte sie. »Sie hätten uns sehr viel Arbeit erspart. Was werden Sie jetzt tun, wenn Sie nach Hause kommen?«
»Tja«, der Freiherr von Zeydlitz-Lauenburg holte tief Luft, »die Zeit des Versteckspielens ist vorbei.
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