Tiefe Wunden
alles zum Besseren wendete. Morgen konnte er die Schecks einlösen. Und zum Zahnarzt gehen. Oder übermorgen. Heute Abend würde er noch einmal im Bremslicht vorbeischauen. Vielleicht war ja dieser Typ da, der mit dem Militärzeug handelte.
*
Bodenstein bog in Fischbach an der Kreuzung nach rechts ab und fuhr auf die B455 Richtung Eppstein. Er hatte sich entschlossen, sofort mit Vera Kaltensee zu sprechen, bevor sein Chef das aus irgendwelchen taktischen Erwägungen verhindern konnte. Während der Fahrt dachte er über die Frau nach, die zweifellos zu den herausragenden Persönlichkeiten der Gegend gehörte und deren bloße Anwesenheit jede Veranstaltung aufwertete. Vera Kaltensee war eine geborene Freifrau von Zeydlitz-Lauenburg und war, nur mit einem Koffer in der Hand und einem Baby auf dem Arm, damals aus Ostpreußen in den Westen geflüchtet. Dort hatte sie wenig später den Hofheimer Unternehmer Eugen Kaltensee geheiratet und mit ihm gemeinsam die Kaltensee Maschinenfabrik zu einem Weltkonzern ausgebaut. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die Geschäftsführung übernommen und sich gleichzeitig unermüdlich bei verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen engagiert. Als großzügige Geldgeberin und Spendensammlerin hatte sie nicht nur in Deutschland allerhöchstes Ansehen erworben. Mit ihrer Eugen-Kaltensee-Stiftung förderte sie Kunst, Kultur, Umwelt- und Denkmalschutz und unterstützte hilfsbedürftige Menschen mit zahlreichen sozialen Projekten, die sie zum großen Teil selbst ins Leben gerufen hatte.
Der »Mühlenhof«, wie der herrschaftliche Familiensitz der Kaltensees genannt wurde, verbarg sich im Tal zwischen Eppstein und Lorsbach hinter blickdichten Hecken und einem hohen schwarzen Eisenzaun mit goldenen Spitzen. Bodenstein bog in die Einfahrt ein; das doppelflügelige Eingangstor stand weit offen. Im hinteren Bereich des parkähnlich angelegten Gartens lag das Herrenhaus, links davon befand sich das historische Mühlengebäude.
»Oh! Ich werde neidisch«, rief Pia beim Anblick sattgrüner Rasenflächen, perfekt gestutzter Büsche und sorgfältig angelegter Blumenrabatten. »Wie kriegen die so etwas hin?«
»Mit einer Armee von Gärtnern«, entgegnete Bodenstein trocken. »Ich glaube auch nicht, dass hier irgendwelches Getier einfach über den Rasen laufen darf.«
Pia grinste bei dieser Anspielung. Bei ihr zu Hause auf dem Birkenhof war ständig irgendein Tier dort, wo es eigentlich nicht sein sollte: die Hunde im Ententeich, die Pferde im Garten, die Enten und Gänse auf Erkundungstour im Haus. Der letzte Ausflug ihres Federviehs hatte Pia einen ganzen Nachmittag gekostet, um die grünlichen Hinterlassenschaften in den Zimmern zu beseitigen. Nur gut, dass Christoph in dieser Hinsicht unempfindlich war.
Bodenstein hielt vor der Freitreppe des Herrenhauses an. Als sie ausstiegen und sich umblickten, kam ein Mann um die Hausecke. Er hatte graues Haar und in seinem langen, schmalen Gesicht fielen Pia zuerst die melancholischen Bernhardineraugen auf. Offenbar handelte es sich um den Gärtner, denn er trug eine grüne Latzhose und hielt eine Rosenschere in der Hand.
»Kann ich Ihnen helfen?« Er musterte sie misstrauisch. Bodenstein zog seinen Polizeiausweis hervor.
»Wir sind von der Kriminalpolizei Hofheim und möchten zu Frau Dr. Kaltensee.«
»Ach so.« Umständlich nestelte der Mann aus der Brusttasche seiner Latzhose eine Lesebrille und studierte Bodensteins Ausweis gründlich. Dann verzog er das Gesicht zu einem höflichen Lächeln. »Ich erlebe hier die verrücktesten Sachen, wenn ich mal nicht sofort das Tor zumache. Viele Leute denken, das wäre ein Hotel oder ein Golfclub.«
»Das wundert mich nicht«, entgegnete Pia mit Blick auf die Beete mit blühenden Stauden und Rosen und die kunstvoll beschnittenen Buchsbaumsträucher. »Genauso sieht es hier ja auch aus.«
»Gefällt es Ihnen?« Der Mann war sichtlich geschmeichelt.
»O ja!« Pia nickte. »Machen Sie das etwa alles ganz alleine?«
»Mein Sohn hilft mir gelegentlich«, räumte er bescheiden ein, genoss aber Pias Bewunderung in vollen Zügen.
»Sagen Sie, wo finden wir Frau Dr. Kaltensee?«, unter brach Bodenstein seine Kollegin, bevor sie sich noch in eine Fachdiskussion über Rasendüngung oder Rosenpflege verwickeln würde.
»Oh, natürlich.« Der Mann lächelte entschuldigend. »Ich werde Sie sofort anmelden. Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«
Bodenstein reichte ihm seine Visitenkarte, und der Mann verschwand in
Weitere Kostenlose Bücher