Tiefe Wunden
sie wieder gegangen und haben dabei ziemlichen Krach gemacht.«
»Da hat’s wohl jemand auf Rentner abgesehen«, bemerkte ihr Kollege. »Schon der zweite innerhalb einer Woche.« Bodenstein überhörte die flapsige Bemerkung.
»Gibt es Einbruchspuren?«
»Auf den ersten Blick nicht. Sieht so aus, als ob er seinem Mörder die Tür geöffnet hätte. Es wurde auch in der Wohnung nichts durchwühlt«, erwiderte die Polizeimeisterin.
»Danke«, sagte Bodenstein. »Gute Arbeit.«
Pia und er zogen sich Latexhandschuhe an und beugten sich über die Leiche des alten Mannes. Im schummerigen Licht des 40-Watt-Strahlers an der Decke sahen sie beide gleichzeitig, dass die scheinbare Duplizität der Ereignisse kein Zufall war: In die Blutspritzer auf der geblümten Tapete hatte jemand fünf Ziffern gezeichnet. 16145. Bodenstein blickte seine Kollegin an.
»Den« , sagte er entschlossen, »lasse ich mir nicht wegnehmen.«
In dem Augenblick traf der Arzt ein. Pia erkannte ihn wieder. Es war der Zwerg, der vor anderthalb Jahren die Leichenschau bei der toten Isabel Kerstner durchgeführt hatte. Der Zwerg erinnerte sich offenbar auch an den ersten Mordfall, den Pia und Bodenstein gemeinsam bearbeitet hatten, und verzog kurz das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln.
»Darf ich mal«, brummte er unhöflich. Entweder war das seine Wesensart, oder er war nachtragend. Bodenstein hatte ihm damals ob seiner Gleichgültigkeit ziemlich unverblümt die Meinung gesagt.
»Passen Sie auf, dass Sie keine Spuren vernichten«, entgegnete Bodenstein genauso unhöflich und erntete dafür einen grimmigen Blick. Er bedeutete Pia mit einem Kopfnicken, ihm in die Küche zu folgen.
»Wer hat den denn gerufen?«, fragte er mit gesenkter Stimme.
»Ich denke mal die Kollegen vom ersten Angriff«, erwiderte sie. Pias Blick blieb an einer Pinnwand neben dem Küchentisch hängen. Sie trat näher und löste eine Karte aus vornehmem Büttenpapier, die zwischen Quittungen, Rezepten und ein paar Postkarten an die Korkplatte gepinnt worden war. Einladung , stand darauf. Pia klappte die Karte auseinander und stieß einen überraschten Pfiff aus. »Schau mal einer an!« Sie reichte die Einladungskarte an ihren Chef weiter.
Der Bungalow aus den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts versammelte alle stilistischen Geschmacklosigkeiten jener Epoche in der altmodischen Einrichtung, wie Pia bei einem Rundgang feststellte. Furnierte Eiche rustikal im Wohnzimmer, an den Wänden nichtssagende Landschaftsbilder, die keine Rückschlüsse auf den Geschmack der Hausbewohner erlaubten. Das Blümchendekor auf den Wandfliesen in der Küche schmerzte in den Augen, das Gästeklo war komplett in altrosa gehalten. Pia betrat das spartanisch eingerichtete Schlafzimmer. Auf dem Nachttischschränkchen neben der Seite des Bettes, die Schneider benutzt hatte, standen ein paar Medikamentenfläschchen, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein zerlesenes Exemplar von Marion Gräfin Dönhoffs Namen, die keiner mehr nennt .
»Und?«, fragte Bodenstein. »Irgendetwas gefunden?«
»Nichts.« Pia zuckte die Schultern. »Kein Arbeitszimmer, noch nicht mal einen Schreibtisch.«
Während die Leiche von Herrmann Schneider in dieRechtsmedizin transportiert wurde, packten die Beamten vom Erkennungsdienst ihr Handwerkszeug zusammen; auch der Arzt war schon wieder weg, nachdem er die Rektaltemperatur des Toten gemessen und den Todeszeitpunkt mit Hilfe dieses Wertes auf ungefähr ein Uhr morgens geschätzt hatte.
»Vielleicht hatte er ein Büro im Keller«, vermutete Bodenstein. »Lassen Sie uns unten nachsehen.«
Pia folgte ihrem Chef die Kellertreppe hinunter. Hinter der ersten Tür befand sich der Heizungskeller mit einer modernen Ölheizung. Im Keller nebenan standen ordentlich beschriftete Kartons in Regalen, an der anderen Wand lagerten Weinflaschen in Holzkisten. Bodenstein nahm die Flaschen genauer in Augenschein und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Hier lagert ein kleines Vermögen.«
Pia ging schon zur nächsten Tür. Sie schaltete das Licht ein und blieb staunend stehen.
»Chef!«, rief sie. »Das müssen Sie sich ansehen!«
»Was ist das denn?« Bodenstein erschien hinter ihr im Tür rahmen.
»Sieht aus wie ein Kino.« Pia betrachtete die mit dunkelrotem Samt bespannten Wände, die drei Reihen mit jeweils fünf bequemen Plüschsesseln und den geschlossenen schwarzen Vorhang am anderen Ende des erstaunlich großen Raumes. An der Wand neben der Tür
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