Tiefe Wunden
vorbehalten war. Er rief sie mindestens zehnmal am Tag an, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging.
»Wie geht es dir, mein Schatz?«, fragte er. »Was treibt ihr zwei so?«
Marleen lächelte bei der Anspielung auf das Baby in ihrem Bauch.
»Wir liegen faul auf der Couch«, erwiderte sie. »Ich lese ein bisschen. Was machst du?«
In einer Zeitungsredaktion wurde auch an Feiertagen gearbeitet. Thomas hatte freiwillig den Dienst am 1. Mai übernommen, zugunsten seiner Kollegen, die Familie und Kinder hatten. Das fand Marleen bezeichnend für seinen Charakter. Thomas war rücksichtsvoll und selbstlos.
»Ich muss noch auf zwei aktuelle Sachen warten«, seufzte er. »Es tut mir echt leid, dass ich dich heute den ganzen Tag alleine lasse, aber wenigstens habe ich am Wochenende frei.«
»Mach dir keine Gedanken wegen mir. Mir geht’s gut.«
Sie redeten noch eine Weile, dann musste Thomas das Gespräch beenden. Selig betrachtete Marleen wieder den Ring an ihrem Finger. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und überlegte, wie viel Glück sie doch mit diesem Mann gehabt hatte.
Dr. Vera Kaltensee erwartete sie in der Eingangshalle, eine gepflegte Dame mit schneeweißem Haar und wachen hellblauen Augen in einem sonnengebräunten Gesicht, in das ein langes Leben ein Netz tiefer Falten gegraben hatte. Sie hielt sich sehr gerade, das einzige Zugeständnis an ihr Alter war ein Gehstock mit silbernem Knauf.
»Kommen Sie herein.« Ihr Lächeln war herzlich, ihre tiefe Stimme zitterte leicht. »Mein lieber Moormann sagte mir, dass Sie mich in einer wichtigen Angelegenheit sprechen möchten.«
»Ja, das stimmt.« Bodenstein reichte ihr die Hand und er widerte ihr Lächeln. »Oliver von Bodenstein, Kripo Hofheim. Meine Kollegin, Pia Kirchhoff. «
»Sie sind also der tüchtige Schwiegersohn von meiner lieben Freundin Gabriela«, stellte sie fest und betrachteteihn prüfend. »Sie schwärmt nur in den höchsten Tönen von Ihnen. Ich hoffe, mein Geschenk zur Geburt Ihrer kleinen Tochter hat guten Anklang gefunden?«
»Aber selbstverständlich. Herzlichen Dank.« Bodenstein konnte sich beim besten Willen nicht an ein Geschenk von Vera Kaltensee zu Sophias Geburt erinnern, aber er nahm an, dass Cosima selbiges mit einem Dankschreiben angemessen gewürdigt hatte.
»Guten Tag, Frau Kirchhoff«, Dr. Vera Kaltensee wandte sich Pia zu und ergriff ihre Hand, »ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Sie beugte sich ein wenig vor.
»Ich habe noch nie eine so hübsche Polizistin getroffen. Was haben Sie für schöne blaue Augen, meine Liebe!«
Pia, die auf solche Komplimente eigentlich misstrauisch reagierte, fühlte sich wider Willen geschmeichelt und lachte verlegen. Sie hatte erwartet, von dieser prominenten, schwerreichen Frau von oben herab behandelt oder gar nicht beachtet zu werden, und war angenehm überrascht, wie normal und unprätentiös Vera Kaltensee auftrat.
»Aber kommen Sie erst einmal herein!« Die alte Dame hakte sich bei Pia unter, als seien sie alte Freundinnen, und führte sie in einen Salon, dessen Wände mit flämischen Wandteppichen bedeckt waren. Vor dem wuchtigen Marmorkamin standen drei Sessel und ein Tischchen, die trotz ihrer Unscheinbarkeit wahrscheinlich wertvoller waren als das gesamte Mobiliar des Birkenhofs. Sie machte eine einladende Geste in Richtung Sessel.
»Bitte«, sagte sie freundlich. »Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen Kaffee oder eine Erfrischung anbieten?«
»Nein danke«, lehnte Bodenstein höflich ab. Die Nachricht vom Tod eines Menschen überbrachte sich leichter im Stehen als bei einem Tässchen Kaffee.
»Gut. Was führt Sie zu mir? Ein reiner Höflichkeitsbesuch ist es wohl kaum, oder?« Vera Kaltensee lächelte noch immer, aber in ihren Augen erschien ein besorgter Ausdruck.
»Leider nein«, gab Bodenstein zu.
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der alten Dame. Mit einem Mal wirkte sie auf eine rührende Weise hilflos. Sie setzte sich in einen der Sessel und blickte Bodenstein abwartend an wie ein Schulmädchen den Lehrer.
»Wir wurden heute Morgen zur Leiche von Herrmann Schneider gerufen. In seinem Haus haben wir Hinweise gefunden, dass er Sie kannte, deshalb sind wir hier.«
»Um Gottes willen«, flüsterte Vera Kaltensee entsetzt und wurde kreidebleich. Der Gehstock entglitt ihr, die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich um das Medaillon ihrer Halskette. »Wie ist er ... ich meine ... was ... was ist passiert?«
»Er wurde in seinem Haus erschossen.«
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