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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Richtung Haustür.
    »Im Gegensatz zum Park ist das Haus aber ziemlich schäbig«, stellte Pia fest. Aus der Nähe betrachtet sah das Gebäude längst nicht mehr so herrschaftlich und prachtvoll aus wie aus der Ferne. Der fleckige Putz war schadhaft und blätterte ab, an manchen Stellen war das Mauerwerk zu sehen.
    »Das Haus ist historisch auch nicht so bedeutsam wie die anderen Gebäude hier«, erklärte Bodenstein. »Bekannt ist das Anwesen vor allen Dingen durch die Mühle, die zum ersten Mal im dreizehnten Jahrhundert urkundlich erwähnt wurde, wenn ich mich richtig erinnere. Sie gehörte bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert der Familie zu Stolberg-Werningerode, die auch Besitzer der Burg Eppstein waren, bevor sie sie 1929 der Stadt Eppstein schenkten. Ein Cousin der Werningerodes heiratete eine Tochter aus dem Hause Zeydlitz, und so ist dieses Anwesen in den Besitz der Kaltensees gelangt.«
    Pia starrte ihren Chef verblüfft an.
    »Was ist?«, fragte der.
    »Woher wissen Sie das alles? Und was haben Wernige... dingsda und Zeydlitz mit Kaltensees zu tun? «
    »Vera Kaltensee ist eine geborene Zeydlitz-Lauenburg«, informierte Bodenstein seine Kollegin. »Ich hatte vergessen,Ihnen das zu sagen. Alles andere ist einfach Heimatkundewissen.«
    »Na klar.« Pia nickte. »Derart fundamentale Details lernt man unter Blaublütern wahrscheinlich gleichzeitig mit dem Gotha auswendig.«
    »Höre ich da so etwas wie Sarkasmus in Ihrer Stimme?«, erkundigte Bodenstein sich und grinste.
    »Um Gottes willen, nein!« Pia hob beide Hände. »Ah, da kommt der Leibeigene der gnädigen Frau schon herbeigeeilt. Wie begrüßt man sie wohl? Mit einem Hofknicks?«
    »Sie sind unmöglich, Frau Kirchhoff. «
     
    Marleen Ritter, geborene Kaltensee, betrachtete den schlichten Goldring am Ringfinger ihrer rechten Hand und lächelte. Ihr war noch immer ganz schwindelig von dem Tempo, in dem sich ihr Leben in den vergangenen Wochen und Monaten so grundlegend zum Positiven verändert hatte. Eigentlich hatte sie sich nach der Scheidung von Marco damit abgefunden, bis ans Ende ihrer Tage allein zu sein. Ihre stämmige Figur war ein Erbe ihres Vaters, abschreckender für jeden potentiellen Verehrer war aber ihr amputierter Unterschenkel. Nicht so für Thomas Ritter! Er kannte sie schließlich seit ihrer Kindheit und hatte das ganze Drama miterlebt: die verbotene Liaison mit Robert, den folgenschweren Unfall, den entsetzlichen Krach, der die ganze Familie tief erschüttert hatte. Thomas hatte sie im Krankenhaus besucht, er hatte sie zu den Arztterminen und zur Physiotherapie chauffiert, wenn ihre Eltern keine Zeit hatten. Immer hatte er tröstende und aufmunternde Worte für das unglückliche dicke Mädchen gefunden, das sie gewesen war. Ja, zweifellos hatte sie sich damals schon in ihn verliebt.
    Als sie ihn im vergangenen Dezember zufällig wiedergetroffen hatte, war es ihr wie ein Fingerzeig Gottes erschienen.Er hatte schlecht ausgesehen, beinahe etwas heruntergekom men, aber er war so zuvorkommend und charmant wie eh und je gewesen. Nie hatte er auch nur ein einziges schlechtes Wort über ihre Omi gesagt, obwohl er allen Grund gehabt hätte, sie zu hassen. Marleen wusste nicht genau, was nach achtzehn Jahren zum Bruch zwischen Thomas und ihrer Großmutter geführt hatte, darüber war in der Familie nur heimlich spekuliert worden, aber es tat ihr sehr leid, denn Thomas war ein ganz besonderer Mann. Es lag an der Großmutter und ihren Beziehungen, dass er nicht mehr den Hauch einer Chance hatte, in Frankfurt einen anständigen Job zu finden, der seinem Können entsprach.
    Weshalb hatte er die Stadt nicht einfach verlassen und woanders einen Neuanfang gewagt? Stattdessen hielt er sich mit Mühe als freiberuflicher Journalist über Wasser; seine kleine Wohnung in einem Wohnblock in Frankfurt-Niederrad war ein deprimierendes Loch. Sie hatte ihn gedrängt, zu ihr zu ziehen, aber er hatte erwidert, er wolle ihr nicht auf der Tasche liegen. Das rührte sie sehr. Ihr war es gleichgültig, dass Thomas kaum mehr besaß als das, was er auf dem Leib trug. Es war nicht seine Schuld. Sie liebte ihn aus tiefstem Herzen, sie liebte es, mit ihm zusammen zu sein, mit ihm zu schlafen. Und sie freute sich auf ihr gemeinsames Kind. Marleen zweifelte nicht daran, dass es ihr gelingen würde, Thomas und die Großmutter wieder miteinander zu versöhnen. Schließlich hatte Vera ihr noch nie etwas abgeschlagen. Ihr Handy klingelte mit dem speziellen Rufton, der Thomas

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