Tiefe Wunden
Da war mir klar, dass ich nichts mehr hätte tun können.«
»Sie haben ganz richtig gehandelt.« Bodenstein lächelte sie freundlich an. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Wann haben Sie gestern Abend das Haus verlassen?«
»Gegen acht. Ich habe noch das Abendessen und seine Tabletten vorbereitet.«
»Wann waren Sie wieder zurück?«, erkundigte Pia sich. »Heute Morgen um kurz vor sieben. Herr Goldberg legte Wert auf Pünktlichkeit.«
Bodenstein nickte. Dann erinnerte er sich an die Ziffern auf dem Spiegelglas.
»Sagt Ihnen die Zahl 16145 etwas?«, erkundigte er sich. Die Haushälterin blickte ihn erstaunt an und schüttelte den Kopf.
In der Halle wurden Stimmen laut. Bodenstein wandte sich zur Tür und stellte fest, dass Dr. Henning Kirchhoff – der stellvertretende Leiter des Zentrums für Rechtsmedizin in Frankfurt und Exmann seiner Kollegin – höchstselbst gekommen war. Früher, während seiner Zeit beim K11 in Frankfurt, hatte Bodenstein oft und gerne mit Kirchhoff zusammengearbeitet. Der Mann war eine Koryphäe in seinem Beruf, ein brillanter Wissenschaftler mit einer an Besessenheit grenzenden Arbeitseinstellung, außerdem einer der wenigen Spezialisten für forensische Anthropologie in Deutschland. Wenn sich herausstellte, dass Goldberg in seinem Leben tatsächlich eine wichtige Persönlichkeit gewesen war, würde dasöffentliche und politische Interesse den Druck auf das K11 erheblich erhöhen. Umso besser, wenn ein anerkannter Spezialist wie Kirchhoff Leichenschau und Obduktion vornahm. Denn auf dieser würde Bodenstein bestehen, ganz gleich, wie offensichtlich die Todesursache auch sein mochte.
»Hallo, Henning«, hörte Bodenstein die Stimme von Pia Kirchhoff hinter sich. »Danke, dass du gleich selbst gekommen bist.«
»Dein Wunsch war mir Befehl.« Kirchhoff ging neben der Leiche Goldbergs in die Hocke und betrachtete sie prüfend. »Da hat der alte Knabe den Krieg und Auschwitz überlebt, um in seinem eigenen Haus hingerichtet zu werden. Unglaublich.«
»Kanntest du ihn?« Pia schien überrascht.
»Nicht persönlich.« Kirchhoff blickte auf. »Aber er war in Frankfurt nicht nur bei der Jüdischen Gemeinde hoch geschätzt. Wenn ich mich richtig erinnere, war er ein wichtiger Mann in Washington und über Jahrzehnte Berater des Weißen Hauses, sogar Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates. Er hatte mit der Rüstungsindustrie zu tun. Außerdem hat er viel für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel getan.«
»Woher weißt du das?«, hörte Bodenstein seine Kollegin misstrauisch fragen. »Hast du etwa eben noch schnell seinen Namen gegoogelt, um bei uns Eindruck zu schinden?«
Kirchhoff erhob sich und warf ihr einen gekränkten Blick zu.
»Nein. Das habe ich irgendwo gelesen und abgespeichert.«
Das ließ Pia Kirchhoff gelten. Ihr geschiedener Mann hatte ein fotografisches Gedächtnis und war überdurchschnittlich intelligent. In zwischenmenschlicher Hinsicht hingegen besaß er einige eklatante Schwächen, er war ein Zyniker und Misanthrop.
Der Rechtsmediziner trat zur Seite, damit der Beamte vom Erkennungsdienst die notwendigen Tatortfotos schießen konnte. Pia machte ihn auf die Zahl auf dem Spiegel aufmerksam.
»Hm.« Kirchhoff betrachtete die fünf Ziffern aus nächster Nähe.
»Was könnte das wohl bedeuten?«, fragte Pia. »Das muss der Mörder geschrieben haben, oder?«
»Ist anzunehmen«, bestätigte Kirchhoff. »Jemand hat sie in das Blut gezeichnet, als es noch frisch war. Aber was sie bedeuten – keine Ahnung. Ihr solltet den Spiegel mitnehmen und untersuchen lassen.«
Er wandte sich wieder der Leiche zu. »Ach ja, Bodenstein«, sagte er leichthin. »Ich vermisse Ihre Frage nach dem Todeszeitpunkt.«
»Üblicherweise frage ich frühestens nach zehn Minuten«, entgegnete Bodenstein trocken. »Für einen Hellseher halte ich Sie bei aller Wertschätzung dann doch nicht.«
»Ich würde ganz unverbindlich behaupten, dass der Tod um zwanzig nach elf eingetreten ist.«
Bodenstein und Pia blickten ihn verblüfft an.
»Das Glas seiner Armbanduhr ist gesplittert«, Kirchhoff deutete auf das linke Handgelenk des Toten, »und die Uhr ist stehengeblieben. Tja, es wird wohl hohe Wellen schlagen, wenn bekannt wird, dass Goldberg erschossen wurde.«
Das fand Bodenstein noch ziemlich zurückhaltend aus gedrückt. Die Aussicht, dass eine Antisemitismusdiskussion die Ermittlungen in den Fokus des öffentlichen Interesses rücken könnte, behagte ihm überhaupt
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