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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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schmiegte sich an ihn. Obwohl ihm der Geruch von Erbrochenem in die Nase stieg, zog er sie enger an sich. »Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«
    »Aber natürlich«, antwortete sie ernsthaft. »Wenn es dir nichts ausmacht, eine Kaltensee zu heiraten.«
    Offenbar hatte sie tatsächlich mit niemandem aus ihrer Familie über ihn und ihren Zustand gesprochen. So ein braves Mädchen! Übermorgen, am Montag, um Viertel vor zehn hatten sie einen Termin beim Standesamt im Römer, und spätestens um zehn gehörte er offiziell zu der Familie, die er aus ganzem Herzen hasste. Oh, wie er sich darauf freute, ihr als Marleens angetrauter Ehemann gegenüberzutreten! Er spürte, wie er bei seiner Lieblingsphantasie unwillkürlich eine Erektion bekam. Marleen bemerkte es und kicherte.
    »Wir müssen uns beeilen«, flüsterte sie. »In spätestens einer Stunde muss ich bei Omi sein und mit ihr ...«
    Er verschloss ihren Mund mit einem Kuss. Zum Teufel mit Omi! Bald, bald, bald war es so weit, der Tag der Rache war zum Greifen nahe! Aber sie würden es erst dann offiziell verkünden, wenn Marleen einen ordentlich dicken Bauch hatte.
    »Ich liebe dich«, flüsterte er ohne den Hauch eines schlechten Gewissens. »Ich bin verrückt nach dir.«
     
    Dr. Vera Kaltensee saß, eingerahmt von ihren Söhnen Elard und Siegbert, auf dem Ehrenplatz in der Mitte der prächtiggedeckten Tafel im großen Saal von Schloss Bodenstein und wünschte, dieser Geburtstag wäre endlich vorüber. Selbstverständlich war die gesamte Familie ausnahmslos ihrer Einladung gefolgt, aber das bedeutete ihr wenig, denn ausgerechnet die beiden Männer, in deren Gesellschaft sie diesen Tag gerne gefeiert hätte, fehlten in der Runde. Und daran hatte sie selbst Schuld. Mit dem einen hatte sie sich erst gestern wegen einer Lappalie gestritten – kindisch, dass er ihr das nachtrug und deswegen heute nicht gekommen war –, den anderen hatte sie vor einem Jahr aus ihrem Leben verbannt. Die Enttäuschung über Thomas Ritters hinterhältiges Verhalten nach achtzehn Jahren vertrauensvoller Zusammenarbeit schmerzte noch immer wie eine offene Wunde. Vera mochte es sich nicht eingestehen, aber in Momenten der Selbsterkenntnis ahnte sie, dass dieser Schmerz die Qualität echten Liebeskummers hatte. Peinlich in ihrem Alter und doch war es so. Thomas war achtzehn Jahre lang ihr engster Vertrauter gewesen, ihr Sekretär, ihr Kummerkasten, ihr Freund, aber leider nie ihr Liebhaber. Kaum einen der Männer in ihrem Leben hatte Vera so vermisst wie diesen kleinen Verräter. Etwas anderes war er schließlich nicht. Im Laufe ihres langen Lebens hatte sie feststellen müssen, dass der Spruch »Jeder ist ersetzbar« nicht stimmte. Niemand war einfach so ersetzbar, Thomas schon gar nicht. Nur selten gestattete Vera sich einen Blick zurück. Heute, an ihrem fünfundachtzigsten Geburtstag, erschien es ihr aber durchaus legitim, wenigstens kurz all derer zu gedenken, die sie nach und nach im Stich gelassen hatten. Von einigen Weggefährten hatte sie sich leichten Herzens getrennt, bei anderen war es ihr schwerer gefallen. Sie seufzte tief.
    »Geht es dir gut, Mutter?«, erkundigte sich Siegbert, ihr Zweitältester, der zu ihrer Linken saß, sofort besorgt. »Du hast kaum etwas gegessen!«
    »Mir geht’s gut.« Vera nickte und zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. »Mach dir keine Sorgen, mein Junge.«
    Siegbert war immer so bemüht um ihr Wohlergehen und ihre Anerkennung, manchmal tat er ihr deswegen beinahe leid. Vera wandte den Kopf für einen kurzen Seitenblick auf ihren Ältesten. Elard wirkte abwesend, wie so häufig in letzter Zeit, und schien dem Tischgespräch nicht zu folgen. In der vergangenen Nacht hatte er wieder einmal nicht zu Hause übernachtet. Vera war das Gerücht zu Ohren gekommen, er habe eine Affäre mit der talentierten japanischen Malerin, die derzeit von der Stiftung gefördert wurde. Das Mädchen war Mitte zwanzig, fast vierzig Jahre jünger als Elard. Aber im Gegensatz zu dem rundlichen fröhlichen Siegbert, der schon mit fünfundzwanzig Jahren kein Haar mehr auf dem Kopf gehabt hatte, war das Alter mit Elard gnädig gewesen, ja, er sah jetzt, mit dreiundsechzig, beinahe besser aus als früher. Kein Wunder, dass Frauen jeden Alters noch immer auf ihn flogen! Er gab sich stets als Gentleman alter Schule, eloquent, kultiviert und angenehm zurückhaltend. Undenkbar, sich Elard in Badehose am Strand vorzustellen! Selbst im heißesten Sommer kleidete er sich

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