Tiefe Wunden
nicht.
Die Momente, in denen sich Thomas Ritter vorkam wie ein Schwein, gingen immer schnell vorbei. Der Zweck heiligte schließlich die Mittel. Nach wie vor glaubte Marleen an einenpuren Zufall, der ihn an jenem Novembertag in das Bistro in der Goethepassage geführt hatte, wo sie immer zu Mittag aß. Das zweite Mal waren sie sich »zufällig« vor der Praxis des Physiotherapeuten an der Eschersheimer Landstraße begegnet, bei dem sie immer donnerstags um 1 9:3 0 Uhr trainierte, um das Handicap ihrer Behinderung auszugleichen. Eigentlich hatte er sich auf eine lange Zeit des Werbens eingestellt, aber es war erstaunlich schnell gegangen. Er hatte Marleen zum Abendessen in Erno’s Bistro eingeladen, obwohl das seine finanziellen Möglichkeiten weit überstiegen und den großzügigen Vorschuss des Verlags beängstigend verringert hatte. Behutsam hatte er erkundet, inwieweit sie über seine momentane Situation Bescheid wusste. Zu seiner Erleichterung war sie vollkommen ahnungslos und freute sich nur, einen alten Bekannten wieder getroffen zu haben. Sie war schon immer eine Einzelgängerin gewesen; der Verlust ihres Unterschenkels und die Prothese hatten sie noch zurückhaltender werden lassen. Nach dem Champagner hatte er einen sensationellen 1994 Pomerol Château L’Eglise Clinet bestellt, der ungefähr das kostete, was er seinem Vermieter schuldete. Geschickt hatte er sie dazu gebracht, von sich zu erzählen. Frauen redeten gerne über sich, so auch die einsame Marleen. Er erfuhr von ihrem Job als Archivarin bei einer deutschen Großbank und von ihrer maßlosen Enttäuschung, als sie herausgefunden hatte, dass ihr Ehemann während ihrer Ehe mit seiner Geliebten zwei Kinder gezeugt hatte. Nach zwei weiteren Gläsern Rotwein hatte Marleen jede Zurückhaltung verloren. Hätte sie geahnt, wie viel ihm ihre Körpersprache verriet, so hätte sie sich ganz sicher geschämt. Sie war ausgehungert nach Liebe, nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, und spätestens beim Dessert, das sie kaum anrührte, hatte er gewusst, dass er sie noch am selben Abend ins Bett kriegen würde. Geduldig hatte er darauf gewartet, dass sieden Anfang machen würde. Und tatsächlich, eine Stunde später war es so weit gewesen. Ihr atemlos geflüstertes Geständnis, sie habe sich schon vor fünfzehn Jahren in ihn verliebt, hatte ihn nicht überrascht. In der Zeit, in der er im Hause Kaltensee ein und aus gegangen war, hatte er sie, die Lieblingsenkelin ihrer Großmutter, oft genug gesehen und ihr die Komplimente gemacht, die sie von keinem anderen zu hören bekam. Damit hatte er schon damals ihr Herz erobert, als ob er geahnt hätte, dass er es eines Tages brauchen würde. Der Anblick ihrer Wohnung – geschmackvoll eingerichtete hundertfünfzig Quadratmeter Stilaltbau mit Stuckdecken und Parkettfußboden im vornehmen Frankfurter Westend – hatte ihm schmerzlich vor Augen geführt, was er durch die Ächtung der Familie Kaltensee verloren hatte. Er hatte sich geschworen, sich alles zurückzuholen, was sie ihm genommen hatten, und noch viel mehr dazu.
Das war nun ein halbes Jahr her.
Thomas Ritter hatte seine Rache mit Weitsicht und viel Geduld geplant, jetzt ging die Saat auf. Er drehte sich auf den Rücken und streckte träge seine Glieder. Im benachbarten Badezimmer rauschte schon zum dritten Mal hintereinander die Klospülung. Marleen litt unter heftiger Morgenübelkeit, aber für den Rest des Tages fühlte sie sich wohl, so dass ihre Schwangerschaft bisher niemandem aufgefallen war.
»Geht es dir gut, Liebling?«, rief er und unterdrückte ein zufriedenes Grinsen. Für eine Frau mit ihrem scharfen Verstand hatte sie sich überraschend leicht reinlegen lassen. Sie ahnte nicht, dass er gleich nach der ersten Liebesnacht ihre Pille durch wirkungslose Placebos ersetzt hatte. Als er an einem Abend vor etwa drei Monaten nach Hause gekommen war, hatte sie in der Küche gesessen, verheult und hässlich, vor sich auf dem Tisch der positive Schwangerschaftstest. Es war wie ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl. Allein dieVorstellung, wie sie toben würde, wenn sie herausfand, dass ausgerechnet er ihre geliebte Kronprinzessin geschwängert hatte, war für ihn das reinste Aphrodisiakum gewesen. Er hatte Marleen in die Arme genommen, zuerst ein wenig konsterniert, dann aber hellauf begeistert getan und sie schließlich auf dem Küchentisch gevögelt.
Marleen kehrte aus dem Bad zurück, blass, aber lächelnd. Sie kroch zu ihm unter die Bettdecke und
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