Tiefe Wunden
»Heute ist doch Samstag.«
»Ich muss um neun im Schloss sein«, entgegnete Rosalie. »Wir haben heute eine Riesenveranstaltung. Champagnerempfang und danach Sechs-Gänge-Menü für dreiundfünfzig Leute. Eine von Omas Freundinnen feiert bei uns ihren 85. Geburtstag.«
»Aha.«
Rosalie hatte sich nach ihrem bestandenen Abitur im vergangenen Sommer gegen ein Studium und stattdessen für eine Lehre als Köchin im noblen Restaurant von Bodensteins Bruder Quentin und seiner Schwägerin Marie-Louise entschieden. Zur Überraschung ihrer Eltern war Rosalie voller Begeisterung bei der Sache. Sie beklagte sich weder über unchristliche Arbeitszeiten noch über ihren strengen und cholerischen Chef. Cosima argwöhnte, dass genau dieser Chef,der temperamentvolle Sterne-Koch Jean-Yves St. Clair, der eigentliche Grund für Rosalies Entscheidung gewesen sei.
»Die haben mindestens zehnmal die Menüfolge, die Weinauswahl und die Anzahl der Gäste geändert.« Rosalie stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine. »Bin mal gespannt, ob denen noch was Neues eingefallen ist.«
Das Telefon klingelte. An einem Samstagmorgen um halb neun verhieß das erfahrungsgemäß nichts Gutes. Rosalie ging dran und kam wenig später mit dem tragbaren Telefon zurück in die Küche. »Für dich, Papa«, sagte sie, hielt ihm das Gerät entgegen und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken. Bodenstein seufzte. Aus dem Spaziergang im Taunus und einem gemütlichen Mittagessen mit Cosima und Sophia würde wohl nichts werden. Seine Befürchtungen bestätigten sich, als er die angespannte Stimme von Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff hörte.
»Wir haben einen Toten. Ich weiß, ich habe heute Bereitschaft, aber vielleicht sollten Sie mal kurz herkommen, Chef. Der Mann war ein hohes Tier, außerdem Amerikaner.«
Das klang stark nach einem verdorbenen Wochenende.
»Wo?«, fragte Bodenstein knapp.
»Sie haben es nicht weit. Kelkheim. Drosselweg 39a. David Goldberg. Seine Haushälterin hat ihn heute Morgen um halb acht gefunden.«
Bodenstein versprach, sich zu beeilen, dann brachte er Cosima den Kakao und verkündete ihr die schlechte Nachricht.
»Leichen am Wochenende gehören verboten«, murmelte Cosima und gähnte herzhaft. Bodenstein lächelte. Noch nie in den vierundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte seine Frau verärgert oder missmutig reagiert, wenn er überraschend wegmusste und damit die Pläne eines Tages ruinierte. Sie setzte sich auf und ergriff den Becher. »Danke. Wo musst du hin?«
Bodenstein nahm ein Hemd aus dem Kleiderschrank. »Inden Drosselweg. Ich könnte eigentlich zu Fuß gehen. Der Mann hieß Goldberg und war Amerikaner. Pia Kirchhoff befürchtet, dass es kompliziert werden könnte.«
»Goldberg«, überlegte Cosima und zog grüblerisch die Stirn in Falten. »Den Namen habe ich erst neulich irgendwo gehört. Aber ich weiß nicht mehr, wo.«
»Es heißt, er sei ein hohes Tier gewesen.« Bodenstein entschied sich für eine blau gemusterte Krawatte und schlüpfte in ein Jackett.
»Ah ja, ich weiß es wieder«, sagte Cosima. »Frau Schönermark vom Blumengeschäft war es! Ihr Mann liefert Goldberg jeden zweiten Tag frische Blumen. Er ist vor einem halben Jahr fest hierhergezogen, früher hat er das Haus nur gelegentlich bewohnt, wenn er zu Besuch in Deutschland war. Sie hat gesagt, sie habe gehört, er sei mal Berater von Präsident Reagan gewesen.«
»Na, dann muss er ja schon etwas älter gewesen sein.« Bodenstein beugte sich über seine Frau und küsste sie auf die Wange. Er war in Gedanken schon bei dem, was ihn erwarten würde. Wie jedes Mal, wenn er zum Fundort einer Leiche gerufen wurde, überfiel ihn diese Mischung aus Herzklopfen und Beklommenheit, die erst verschwand, wenn er die Leiche gesehen hatte.
»Ja, er war ziemlich alt.« Cosima nippte abwesend an ihrem nur noch lauwarmen Kakao. »Aber da war noch etwas ...«
Außer ihm und dem Priester mit seinen beiden verschlafenen Messdienern waren nur einige alte Mütterchen, die entweder die Furcht vor dem nahenden Ende oder die Aussicht auf einen weiteren öden und einsamen Tag so früh in die Kirche getrieben hatte, zur Messe nach St. Leonhard gekommen. Sie saßen verstreut im vorderen Drittel des Kirchenschiffs aufden harten hölzernen Bänken und lauschten der leiernden Stimme des Priesters, der hin und wieder verstohlen gähnte. Marcus Nowak kniete in der hintersten Bank und starrte blicklos vor sich hin. Der Zufall hatte ihn in diese Kirche mitten in
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