Tiefe Wunden
schaute in die Räume, die sich an den Eingangsbereich und den Flur anschlossen. Das Haus war ein Bungalow, aber größer, als es von außen den Anschein hatte. Die Einrichtung war altmodisch, wuchtige Möbel im Gründerzeitstil, Nussbaum und Eiche mit Schnitzereien. Im Wohnzimmer lagen verblichene Perserteppiche auf beigefarbenem Teppichboden.
»Er muss Besuch gehabt haben.« Pia wies auf den Couchtisch, auf dessen Marmorplatte zwei Weingläser und eine Rotweinflasche standen, daneben ein weißes Porzellanschälchen mit Olivensteinen. »Die Haustür war nicht beschädigt, und bei der ersten oberflächlichen Betrachtung gibt es keine Einbruchspuren. Vielleicht hat er mit seinem Mörder noch etwas getrunken.«
Bodenstein ging zu dem niedrigen Couchtisch, beugte sichvor und kniff die Augen zusammen, um das Etikett der Weinflasche zu lesen.
»Wahnsinn.« Er streckte schon die Finger nach der Flasche aus, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass er keine Handschuhe trug.
»Was ist?«, fragte Pia Kirchhoff. Bodenstein richtete sich auf.
»Das ist ein 1993er Château Petrus«, antwortete er mit einem ehrfürchtigen Blick auf die unscheinbare grüne Flasche mit dem in der Weinwelt so begehrten roten Schriftzug in der Mitte des Etiketts. »Diese eine Flasche kostet ungefähr so viel wie ein Kleinwagen.«
»Nicht zu fassen.«
Bodenstein wusste nicht, ob seine Kollegin damit die Verrückten meinten, die so viel Geld für eine Flasche Wein bezahlten, oder die Tatsache, dass das Mordopfer kurz vor seinem Tod – vielleicht sogar mit seinem Mörder – einen solch edlen Tropfen getrunken hatte.
»Was wissen wir über den Toten?«, fragte er, nachdem er festgestellt hatte, dass die Flasche nur zur Hälfte geleert worden war. Er empfand echtes Bedauern bei dem Gedanken daran, dass man den Rest achtlos in die Spüle gießen würde, bevor die Flasche ins Labor wanderte.
»Goldberg lebte seit Oktober letzten Jahres hier«, sagte Pia. »Er stammte aus Deutschland, hat aber über sechzig Jahre in den USA gelebt, und da muss er ein ziemlich wichtiger Mann gewesen sein. Die Haushälterin meint, seine Familie sei wohlhabend.«
»Lebte er alleine? Er war doch ziemlich alt.«
»Zweiundneunzig. Aber sehr rüstig. Die Haushälterin hat eine Wohnung im Souterrain. Sie hat zweimal in der Woche einen freien Abend, am Sabbat und an einem Abend ihrer Wahl.«
»Goldberg war Jude?« Bodensteins Blick glitt durch das Wohnzimmer und blieb wie zur Bestätigung auf einem bronzenen siebenarmigen Leuchter hängen, der auf einer Anrichte stand. Die Kerzen der Menora waren noch nicht angezündet worden. Sie betraten die Küche, die im Vergleich zum Rest des Hauses hell und modern war.
»Das ist Eva Ströbel«, stellte Pia ihrem Chef die Frau vor, die am Küchentisch saß und sich nun erhob. »Die Haushälterin von Herrn Goldberg.«
Sie war groß, musste trotz flacher Absätze kaum den Kopf heben, um Bodenstein in die Augen sehen zu können. Er reichte ihr die Hand und musterte das blasse Gesicht der Frau. Der Schreck war ihr deutlich anzusehen. Eva Ströbel erzählte, sie sei vor sieben Monaten von Sal Goldberg, dem Sohn des Ermordeten, als Haushälterin für seinen Vater eingestellt worden. Seitdem wohne sie in der Souterrainwohnung und kümmere sich um den alten Herrn und den Haushalt. Goldberg sei noch sehr selbständig gewesen, geistig rege und überaus diszipliniert. Er habe großen Wert auf einen geregelten Tagesablauf und drei Mahlzeiten am Tag gelegt, das Haus habe er nur selten verlassen. Ihr Verhältnis zu Goldberg sei distanziert, aber gut gewesen.
»Hatte er häufig Besuch?«, wollte Pia wissen.
»Nicht häufig, aber gelegentlich«, erwiderte Eva Ströbel. »Einmal im Monat kommt sein Sohn aus Amerika und bleibt für zwei oder drei Tage. Außerdem hatte er hin und wieder Besuch von Bekannten, aber meistens abends. Namen kann ich Ihnen keine nennen, er hat mir seine Gäste nie vorgestellt.«
»Erwartete er gestern Abend auch Besuch? Im Wohnzimmer auf dem Tisch stehen zwei Gläser und eine Flasche Rotwein.«
»Dann muss jemand da gewesen sein«, sagte die Haushälterin.»Ich habe keinen Wein eingekauft, und es ist auch keiner im Haus.«
»Konnten Sie feststellen, ob irgendetwas fehlt?«
»Ich habe noch nicht nachgesehen. Als ich ins Haus kam und ... und Herrn Goldberg da liegen sah, habe ich die Polizei angerufen und vor der Tür gewartet.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich meine, da war das Blut, überall.
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